La Torre
Ein alter Turm, Olivenhaine und die Ruinen eines Dorfes. Niemand erahnt, was sich in dieser beeindruckend schönen Landschaft tatsächlich abspielt, welche über Jahrhunderte andauernde Leiden dem flüchtigen Besucher verborgen bleiben. Eine Geschichte voller Schwermut, die nicht nur dem Erzähler lange nachzuhängen scheint.
Eine Fantasy-Geschichte von Gryphon.
Info: Veröffentlicht am 13.08.2001 in der Rubrik Fantasy.
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Manchmal, in den Ferien, packt es mich. Nicht am ersten oder zweiten Tag, auch nicht in der ersten Woche, erst gegen Ende, wenn ich mehr als ausgeruht bin, überausgeruht, wenn Langeweile mich packt und wenn ich gerade wegen meines Relaxtseins schon beinahe wieder nervös werde. Vier Wochen am Stück habe ich diesmal. Nach drei Wochen bin ich dermaßen ausgeruht, dass ich morgens sehr früh aufwache. Im allgemeinen ekelhaft, doch heute freue ich mich darüber, habe sogar den Wecker gestellt. Gestern Nachmittag bin ich über das Kap gelaufen, auf dem ich ein Haus gemietet habe. Kaum wage ich es zu sagen, nicht etwa spazieren gegangen, sondern beinahe gewandert. Ich habe es nicht bereut. Kurz hinter dem Haus endet die Straße in einem Trampelpfad, fast ist selbst das zu viel gesagt, denn er ist so überwachsen, dass man raten muss, wohin er sich windet. Zweimal stand ich direkt an den steilen Klippen, die fast senkrecht zweihundert Meter ins Meer abfallen. Macchia und trockene Gräser manns- bis hüfthoch gewachsen, wegen des beständig wehenden Windes gibt es nicht einmal viele Insekten.
Letztendlich beschließe ich, dass ich den Weg sein lasse und mich nur an den aufragenden Bruchsteinmauern des Turmes orientiere, zu dem ich will. Ein alter Sarazenenturm, einer von vielen, die früher die Küste säumten, als Warnposten gegen die Mittelmeerpiraten. Die meisten sind abgetragen, weil Bauern die Bruchsteine für ihre Häuser oder zum Anlegen von Terrassen für Olivenhaine nahmen, einige wenige sind restauriert und Touristenattraktionen, dieser spezielle steht zu hoch oben, zu weit weg von Straßen, in einer zu unwirtlichen Landschaft, als dass er für irgendjemanden von Interesse wäre.
Ich nähere mich nur langsam, denn die dicht wachsenden Büsche haben spitze Dornen, ganz so, als wollten sie mich vom Turm fernhalten. Schließlich, nach einer halben Stunde für ein paar hundert Meter, stehe ich vor ihm. Beinahe bin ich enttäuscht. Er ist nicht so groß, wie er von Ferne aussieht. Er hat keinerlei Dach mehr. Etwa ein Viertel der Außenwände ist eingestürzt und liegt als Schutt im ansonsten hohlen Inneren. Keine Treppen mehr, die nach oben führen, selbst die großen Balken der Zwischendecken sind bis auf Stummel weggefault. Traurig, wie wahnsinnig muss der Ausblick auf zwei Buchten von dort oben aus gewesen sein. Wegen der Macchia kann ich von unten aus nichts davon sehen.
Innen, auf dem Schutthaufen, Reste von kleinen Lagerfeuern, ein paar kaputte Flaschen und verrostete Bierdosen, einige schwarze Kerzenstummel. Ich grinse. Macht sich doch die Landjugend glatt die Mühe, hierher zu kommen und Schwarze Messe zu spielen. Ich gehe einmal um den Turm herum und finde auf der anderen Seite einen ziemlich breiten Pfad, gut ausgetreten, viel besser als der, auf dem ich gekommen bin.
Es ist heiß, und ich habe natürlich nichts zu trinken mitgenommen. Dennoch setze ich mich auf einen Stein und rauche eine Zigarette, lösche sie sehr sorgfältig, denn Brände gibt es hier mehr als genug. Ich habe überhaupt keine Lust dazu, mich noch mal durch das Unterholz zu kämpfen, es war sehr anstrengend und inzwischen ist mir eingefallen, was ein Nachbar mir über die hier häufig anzutreffenden Wildsäue erzählt hat. Sie haben zur Zeit ihren Nachwuchs und sind aggressiv.
Die Karte der Gegend habe ich einigermaßen im Kopf. Der Pfad, auf den ich schaue, müsste ins nächste Dorf führen, von dort kann ich den Bus in den Küstenort nehmen, einmal umsteigen und bin wahrscheinlich schneller wieder im Haus, als wenn ich durchs Gestrüpp zurück laufe. Zumal ich für den Rückweg keinen Turm als Wegmarke hätte.
Der Pfad schlängelt sich steil bergab, zuerst ein Stück durch die Macchia, dann durch uralte, aufgegebene Olivenhaine. Schön ist es hier. Schon nach einer Viertelstunde die ersten Mauern des Dorfes, Bruchstein, wie alles in dieser Gegend. An einem verfallenen Hof vorbei komme ich auf den Dorfplatz. Ich wundere mich. Keine Menschen, keine faul in der Sonne liegenden Hunde oder Katzen. Die meisten der Häuser fensterlos. Oh, Mist! Eines der vielen verlassenen kleinen Dörfer dieser Gegend. Jetzt habe ich einen langen Heimweg vor mir! Drei Gassen gehen vom Dorfplatz ab. Ich wähle die, die zwischen den alten Mauern verfallender Häuser bergab führt, bezwinge den Wunsch, ein wenig in den Ruinen zu stöbern. Es ist ein weiter Weg bis zur Küstenstraße, und ich will vor Einbruch der Dunkelheit dort sein. Aber wie immer, wenn ich an einem solchen Ort bin, kann ich mich dem Zauber nur schwer entziehen, und ich überlege mir die beste Zeit fürs Fotografieren. Ganz früh morgens, das müsste es sein! Streiflicht von Osten. Ich komme an den Ortsausgang und horche. Musik? Schlagergedudel? Wohnt hier doch noch jemand? Vor dem letzten Haus, um die Ecke, so dass ich es vorher nicht sehen konnte, stehen zwei Tische mit Plastikstühlen, aus der offenen Tür kommt die Musik. Ein Stück weiter parkt ein alter Willys Jeep, ein Relikt aus dem Weltkrieg, von den Amerikanern zurückgelassen.
»Hallo!« rufe ich in Richtung der geöffneten Tür. Vielleicht störe ich ja. Sekunden später erscheint im Rahmen das Gesicht eines mittelalten Mannes, dicklich und schwitzend und freundlich.
»Signore, ah, ...« Ein Schwall italienischer Wörter lässt mich zurückprallen, und der Mann, der sich jetzt ganz durch die Türe geschoben hat, verstummt einen Moment.
»Tedesco, eh?« Ich nicke. Er grinst sehr freundlich. »Ah, gut! Wie kommen Sie hierher? Wir haben noch gar keine Schilder aufgestellt!«
Ich bin ein bisschen peinlich berührt und verwirrt. Einmal, weil ich jetzt seit mehreren Jahren meine Ferien in dieser Gegend verbringe und immer noch nicht mehr als ein paar Brocken Italienisch spreche, zum anderen, was für Schilder meint er?
»Ich komme von oben, vom Kap.« antworte ich. »Ich dachte, ich könnte hier eine Bushalte finden.« Er lacht wieder.
»Eine Haltestelle? Hier? Hier wohnt seit vielen Jahren keiner mehr. Es gibt nicht einmal eine richtige Straße.« Dann deutet er auf den Tisch mit den Plastikstühlen. »Setzen Sie sich, Signore, setzen Sie sich! Sie sind mein erster Gast.«
Immer noch verstehe ich nicht so ganz. Wir haben also: ein unbewohntes Dorf, keine richtige Straße, einen dicken italienischen Mann, der mich einlädt und dessen erster Gast ich angeblich bin. Egal. Ich setze mich, denn meine Füße tun weh und ich habe Durst. Und wie ich die italienische Gastfreundschaft kenne, wird er mir gleich etwas zu trinken anbieten, mindestens. Er ruft was ins Haus, das ich ebenfalls nicht verstehen kann. Nur Bruchstücke, »mama«, »bibere«, »pronto«. Seine Mama ist also da, so wie zu jedem richtigen Italiener eine Mama gehört, was zu Trinken wird es geben und das sofort.
»Mein Name ist Pasquale Redetto.« Er setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. Aha, seine Mama soll also bedienen. Klar. Ich nenne ebenfalls meinen Namen und frage ihn, woher er so gut deutsch spricht. Er hat fast dreißig Jahre in Deutschland gearbeitet, bei Daimler in Stuttgart, was auch seinen leicht schwäbischen Akzent erklärt. Ich schätze sein Alter, er wird so um die fünfzig sein. Dann höre ich ein Schlurfen, seine Mama erscheint mit einem Tablett, auf dem vier Gläser, eine Flasche Rotwein und eine Flasche Mineralwasser stehen. Dabei beginnt sie zu schimpfen, und nach dem, was ich mitbekomme, geht es um die Faulheit ihres Sohnes. Der grinst nur, scheint es gewohnt zu sein. Das Füllen der Gläser übernimmt natürlich er, Männersache. Ich lasse zunächst einmal Wein Wein sein, auch wenn er verlockend duftet, trinke zwei Gläser Wasser, das leider nicht mit Kohlensäure versetzt ist und nach eingeschlafenen Füßen schmeckt.
Schließlich kann ich meine Neugier nicht mehr bezwingen und frage Pasquale, was er in diesem gottverlassenen Dorf tut. Eine weitausschweifende Geschichte, die seine gesamte Familienhistorie mit einbezieht, ist die Folge, als Quintessenz erfahre ich, dass er vor zwei Jahren einen schweren Arbeitsunfall im Werk hatte und sich daraufhin überlegte, seine Abfindung besser hier zu investieren als im ungemütlichen Deutschland. Recht hat er.
Aber was will er gerade hier? Er hebt die Hände. Meine Frage hält ihn davon ab, noch weiter abzuschweifen. Er hat dieses Haus über sieben Familienecken geerbt, hat aber nicht vor, hier zu wohnen, sondern ist gerade dabei, eine kleine Bar für die Hauptsaison zu eröffnen, für die Touristen. Bussana Vecchia sei ja schließlich auch ein verlassener Ort, und dort gebe es jede Menge zu verdienen. Ich vergleiche im Kopf. Bussana, das einem Erdbeben zum Opfer gefallen ist, in dessen Ruinen sich in den Sechzigern die Hippies einnisteten, wegen der einmaligen Lage hoch oben auf einem Felsen und weil man dort ungestört kiffen konnte. Heute: kommerziell, in jedem noch halbwegs bewohnbaren Haus ein Künstler. Hier: ein paar verlassene Gehöfte am Hang, im Wald, ohne Blick aufs Meer, malerisch zwar, aber nichts Besonderes.
Mama schlurft heran und setzt sich neben uns, während Pasquale weiter davon schwärmt, wie er unten im Tal Werbung für diesen Ort machen will. Ich sehe, wie sie den Mund verzieht. Plötzlich mischt sie sich ein.
»Mein Sohn ist ein Wahnsinniger! Signore! Er leugnet, was alle wissen. In diesem verfluchten Dorf lässt sich kein Geld verdienen!! - «Mama!» - «Pasquale, sei ruhig! Was denken Sie, Signore, warum hier keine Menschen mehr leben?»
Dazu könnte ich viel sagen. Die Lage, die schlechten Felder, obwohl... so nahe der Küste gibt es eigentlich keine verlassenen Dörfer. Selbst der letzte Kotten ist noch interessant genug, Ferienhäuser daraus zu machen. Also schaue ich Mama interessiert an. Pasquale verdreht die Augen. Die Alte scheint in ihrem Element. Ein Kreuzzeichen schlagend beginnt sie zu sprechen.
«Dieses Dorf ist verflucht! Schon seit vielen hundert Jahren. Das Böse schlechthin!» - «Mama!» - «Jetzt sei ruhig, Pasquale! Jeder weiß es, jeder, der in dieser Gegend lebt! Vielleicht warst Du, waren wir zu lange in Deutschland.» - «Mama! Nun reicht es aber. Der Signore muss uns ja für abergläubische Idioten halten...» - «Pasquale!»
Sie wendet sich mir zu. «Sehen Sie sich um, Signore, ist das ein guter Platz? Ja, ist es, werden Sie sagen. Nicht für Einheimische, aber für Touristen. Sehen Sie hier einen Touristen? Nicht, dass es nicht viele versucht hätten, aber alle hatten Unglück und sind wieder fort.»
Es gibt nichts, das der Erzählkraft einer italienischen Mama gleichkommt. Und diese ist eine, wie sie im Buche steht. Sie erzählt mit den Händen, mit der Modulation ihrer Stimme, sie wispert und flüstert und schaut sich dabei um, als könne jemand zuhören, an wichtigen Stellen schlägt sie ein Kreuzzeichen oder legt eine Hand an den Rosenkranz, den sie über dem Kleid um den Hals trägt. Immerhin erfahre ich auf diese Weise zwar nicht, was mit diesem Dorf nicht stimmt, aber dass jedem, der versuchte, hier zu leben, eher früher als später etwas widerfuhr. Pasquale sitzt kopfschüttelnd daneben und gießt uns ein ums andere Mal abwechselnd aus der Wein- oder der Wasserflasche nach. Dann fängt er an zu lachen, wahrscheinlich seine einzige Waffe gegen seine Mutter.
«Madonna brutta!» Was für ein Fluch aus dem Munde einer Katholikin. Sie springt auf und schreitet hoch erhobenen Kopfes ins Haus.
«Wissen Sie,» sagt Pasquale und hebt seine Hände wie zur Entschuldigung in die Höhe, «der Aberglaube. Der Aberglaube zieht das Unglück an. Und außerdem ... ich habe nicht vor, hier zu leben. Aber es kommen schon Touristen hierher. Und da der Weg nur für Geländewagen befahrbar ist, kommen sie fast alle zu Fuß. Haben Hunger und Durst. Und ab morgen wird es hier halt eine Bar geben. Noch ein Glas Wein?» Er hebt die beinahe leere Flasche an, ich verneine. Ein Schlüsselbund rasselt, über die Schulter sehe ich, wie Mama die notdürftig reparierte Eingangstür des Hauses verschließt. Sie ruft Pasquale etwas zu.
«Si, Mama, si!» antwortet er und sagt zu mir gewandt: «Wir müssen jetzt fahren. Wenn es dunkel wird, kommt man leicht vom Weg ab. Wollen Sie mitfahren? Über den Berg zurück wird es jetzt schwierig.»
Ich gebe mir keine Mühe, meine Erleichterung zu verbergen. Auf der hölzernen Rückbank des uralten Jeeps stelle ich fest, dass er in Bezug auf den Fahrweg wirklich nicht übertrieben hat.
Fünf Uhr dreißig. Zu Hause gehe ich manchmal um diese Zeit ins Bett. Im Stehen trinke ich in der Küche Kaffee und wundere mich, dass ich so wach bin. Den Rucksack mit den Kameras, dem Stativ und einer Menge Filme habe ich gestern Abend schon gepackt. Ich laufe los, in die Dämmerung des Morgens hinein. Bald wird die Sonne über dem Kap aufgehen, kurze Zeit später das Dorf erreichen. Wunderbares Streiflicht für eine verwunschene Stimmung. Heute bin ich schneller, denn ich halte mich nicht am Sarazenenturm auf, kenne den Weg schon und gehe insgesamt schneller, weil es noch kühl ist.
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