Bester Jean Phillippe
Ein Gedicht heißt so, nicht weil es sich reimt, sondern weil es dicht ist. Beim Kochen würde man sagen: die Sauce wird eingedickt. Und weil man weniger Raum zur Verfügung hat, werden die Feinheiten desto wichtiger.
Ich reagiere bei Prosa milder, wenn ich lese; beim Essen würde ich sagen: bei viel Kartoffeln oder Nudeln werde ich wenigstens satt.
Bei Lyrik bekomme ich ein kleines Tellerchen mit wenig drauf, und dann kommt's auf jedes Salatblatt an. Die Form gewinnt an Bedeutung.
Bei Lyrik kann also viel eher etwas daneben gehen als beim Prosatexten. Ich find's mutiger/anspruchsvoller zu dichten, als sich seitenlang in Prosa auszubreiten.
Was habe ich vor mir?
Zunächst mal hast Du eine konventionelle Form gewählt: Fünf Strophen mit Paarreimen. Die beiden Zeilen als Ende sind hervorgehoben. Beim Metrum muss ich passen; das „schwankt“; ob das Absicht ist oder einfach nicht gelungen, kann ich nicht entscheiden; säße ich im Auto, würde es mir wie Rumpelstrecke erscheinen. Zeilensprünge gibt es überhaupt nicht, was das Ganze mechanisch, aufzählend wirken lässt auf mich. Damit könnte das Gedicht leichter singbar sein, wären da nicht die vielen Haken schlagenden Versfüße.
Die meisten Wortwahlen und einige Bilder lehnen sich an Romantik an. Die „Blaue Blume“ am Anfang ist wie ein Wegweiser (und dann noch Liebesgeflüster, Braut, Sehnsucht, Demut …) . In der 1. Strophe werden bedeutungsschwere Bilder aufgemacht. Dann einen Karabinerhaken ins Gedicht reinzuschrauben wirkt wahrscheinlich nur auf BDSM-er nicht als kalte Dusche.
Woran ich hängen bleibe ist die Mehrzahl in der Anrede: ist es die Braut, die ehrfürchtig „vermehrt“ wird, oder sind die Leser gemeint?
Die erste Strophe ist klasse. Baut einen Bogen auf, weckt Erwartungen, wählt eine traditionelle Form, die zunehmend rumpeliger wird. In der Art romantischer Ironie? Das Sprechende Ich distanziert sich zunehmend, und spricht am Ende gar nur noch von „Euren Erwartungen“.
Ich fasse mich mal kurz: in meinem Verständnis sind die Leser gemeint, also hier die sexuell Geneigten. Die mit ihrer blauen Blume. Und als Kontrast dazu die blaue Distel: Mechanik, Routine, ritualisierte Abläufe, Erfüllungsversuche von hohen Erwartungen. Von wegen Tiefe!
Ziemlich bissig das Ganze.
Für mich ist das nach mehrmaligen Anläufen die einzige Lesweise, die Form und Inhalt einigermaßen sinnvoll verbindet. Mir wär's gar nicht unlieb, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.