Liebe Onmymind, dass du wunderbar schreiben kannst, steht zweifelsfrei fest. Du beweist es mit all deinen Geschichten, so auch mit dieser. So schön dieses Bild, dass deine Protagonistin über das Klavierspiel eine Art der Klärung und Heilung erfährt! Die Tatsache, dass sie ihren Nachbarn hat spielen hören und sein gefühlvolles Spiel in ihr den Impuls weckte, es auch noch einmal zu versuchen, hat mich lächeln lassen, denn so etwas Ähnliches ist mir im vergangenen Jahr sogar auch passiert. Und doch lässt dein Text mich diesmal etwas ratlos zurück. Anders als meine Vorrednerinnen und -redner konnte ich deinen Figuren diesmal emotional nicht so folgen, wie ich es von deinen wunderbaren Geschichten gewohnt bin.
Ich glaube, es liegt daran, dass ich deine Figuren, so lebendig sie auch sind und so herrlich du deine Dialoge auch in Worte fasst, einen Ticken zu überzeichnet finde. Das fängt bei dem bärbeißigen Klavierlehrer mit den D/s-Paarfotos an den Wänden an, setzt sich fort über den souveränen Dom, den nicht einmal eine akute psychische Krise seiner Sub in irgendeiner Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen scheint, und endet bei der weiblichen Hauptperson, die mir von allem eine Nuance zu viel ist - kühl-rationale Mathematikerin mit nahezu fotografischem Gedächtnis, Studierende am Konservatorium mit perfekter Technik, aber ohne jedes Gefühl, therapieresistentes Opfer einer traumatischen Kindheit. Anders als @Tek Dom halte ich die Verhaltenstherapie durchaus für geeignet, um Zwangsstörungen, Panikattacken, Minderwertigkeitskomplexe und Kindheitstraumata aufzuarbeiten. Ich frage mich, wie es kommt, dass nichts davon offenbar gefruchtet hat.
Auch bin ich persönlich eher zurückhaltend bis skeptisch, wenn BDSM-Sex auf einmal als Lösung für etwas herhalten soll, das selbst professionelle Therapie bislang nicht lösen konnte. Natürlich kann eine liebevolle Beziehung unglaublich heilsam sein, kann das Selbstwertgefühl stärken und neue Erfahrungen ermöglichen. Auch der Sex selbst hat zweifellos viele Funktionen, kann trösten, Gefühle von Wut und Selbsthass kanalisieren und die Erfahrung existenzieller Einsamkeit durchbrechen. Aber es erstaunt mich doch, wie dein Protagonist so souverän und selbstsicher agiert in einer Situation, in der er die Frau, mit der er ein Date hatte, in so einer existenziellen Krise wiederfindet. Und selbst wenn er das tatsächlich so gemeistert hat, wird mir doch ein bisschen mulmig angesichts der Aussicht auf eine D/s-Beziehung, die das alles tragen soll.
Nichts davon ändert etwas daran, dass all das wunderbar geschrieben und in Worte gefasst ist, dass deine Szenen lebendig und nah an deinen Protagonisten dran sind, die Dialoge mich mitreißen. Ich werde einfach nur die vielen Fragezeichen nicht los, die deine Figuren in mir auslösen. Aber das gehört nun einmal zu den Risiken und Nebenwirkungen des Lesens. Danke für deine Geschichte!