Lieber Nachtasou,
ich bin ganz ehrlich. Ich musste Deine Geschichte mehrmals lesen, weil sich mir ihre Bedeutung einfach nicht erschließen wollte. Weil ich besonders gespannt war und einer Deiner ersten Leser sein wollte, las ich sie mitten in der Nacht. Ich war eindeutig zu müde, daher las ich sie noch einmal im Laufe des Tages. Es wurde klarer. Nun habe ich sie zum dritten, vierten und fünften Mal gelesen. Ob ich sie tatsächlich richtig interpretiere, vermag ich nicht zu sagen. Zumindest fühle ich mich jetzt in der Lage sie zu kommentieren:
Gelesen habe ich einen melancholischen, tiefsinnigen Ausschnitt aus dem Leben von Irene R., die seit ihrer Pubertät auf der Suche nach sich selbst scheint, sich nie ernst oder richtig wahrgenommen fühlte. Die Versuche ihr Leben in gesellschaftliche Raster zu pressen (Beruf, Ehemann, Kind), ließen sie irgendwann erkennen, dass sie in gar keiner Weise mit sich selbst und anderen glücklich ist. Der Versuch die gesellschaftlichen Normen weitestgehend abzustreifen (Kind erwachsen, Trennung Ehemann, Halbtagsjob) brachte hingegen auch nicht die Erfüllung, nach der sich Irene sehnte. Sie empfindet sich als anders und nicht zugehörig, vielleicht schon ihr Leben lang, sehnt sich nach einem anderen Leben in einer anderen Zeit. Nun begleiten wir sie schließlich bei dem letzten Versuch sich zu finden, sich zu erden bzw. zu besinnen, indem sie in der Natur versucht Antworten und sich selbst zu finden. Die Antworten jedoch befinden sich bereits in ihr. Irene hat sie bereits entdeckt, ihre Neigung zum Schmerz und damit zum SM, welche immer wieder in Form des einen Traumes, der einen Phantasie an die Oberfläche tritt. Nur leider kann sie diese so gar nicht annehmen, weshalb sie auch Hilfe bei einem Facharzt sucht. Irene versucht Ihrer Phantasie immer wieder zu entkommen und damit ihrer Neigung, weil sie Probleme hat diese anzunehmen und diese als einen Teil von sich zu verstehen.
Lieber Nachtasou, für mich hast Du auf sehr komplexe Weise ein Thema aufgegriffen, in dem sich gewiss ein großer Teil der BDSMler wiederfindet. Das sind nämlich diese Menschen, welche ihre Neigung (zumindest im Anfangsstadium der Realisierung) nicht als Bereicherung wahrnehmen, sondern als etwas Unnormales oder gar Krankes, als etwas das behindert und von dem man sich wünscht, dass man es nicht hätte. Du hast dies wundervoll verpackt in mehreren Episoden, die in der Geschichte nebenher geschehen (Irenes Beruf- und Lebenswelt, ihr Traum/ ihre Phantasie, Irenes Arztbesuch) und Deine Protagonistin schließlich in ihrer Zwiegespaltenheit und den unterschiedlichen Rollen dargestellt. Der bewusste Einsatz der Wortwiederholung von "Sie hatte" zum Beginn der Geschichte, welche schließlich mündet in "jetzt ging sie ...", fesselt nicht nur und baut eine ungeheure Spannung auf, sondern unterstreicht auch Irenes Versuche endlich Bestätigung und Erfüllung zu finden.
Nach wie vor bin ich der Meinung, dass es schwer fällt Dich und Deine Geschichten zu lesen. Aber wieder hast Du für mich in beeindruckender Weise bewiesen, dass sich jedes nochmalige Lesen lohnt, man immer neue Aspekte entdeckt und immer wieder einen neuen Leseeindruck erhält. Zwar gruselt mich Deine Geschichte weniger, jedoch danke auch ich Dir sehr für dieses komplexe Werk.
P.S. Die nächtliche Leseaktion hat sich gelohnt. Ich bin zwar nur die dritte Person, welche ein Kommentar zu Deiner Geschichte verfasst, jedoch war ich die erste Leserin!