Konkrete Beispiele wären hilfreich, sonst läuft es auf diese beiden Positionen hinaus: Die einen beklagen Kulturzerfall (das betrifft nicht allein Sprache, sondern setzt regelmäßig bei „der Jugend“ an). Die gegenteilige Position sieht in Veränderung, wertfrei oder auch nicht, ein unumstößliches Naturgesetz.
Bei Sprache wird es ernst.
Sie ist eines der Denkwerkzeuge. Sie ist mehr als was meine Hand zu Papier bringt oder aus meinem Mund an Worten quillt. Schon vor dem Sprechen bestimmt sie mit, was ich überhaupt wahrnehmen kann und wie ich das im Kopf verarbeite. Sie liefert die Bausteine eines Weltbildes.
Vom Genitiv-Tod geht die Welt nicht unter, weil sich Besitzverhältnisse sprachlich verschieden zum Ausdruck bringen lassen. Aber ein „Sprachzerfall“, nach dem am Ende nur noch ein Holzschnitt eines ehemals bunten Teppichs übrig bliebe, hätte weitreichende Folgen.
Ich nenne ein Beispiel: Alexithymie. Das ist Gefühlsanalphabetismus. Den gibt es tatsächlich. Wer nur „gute“ von „schlechten“ Gefühlen unterscheiden kann, wird in der Selbstwahrnehmung und auch im Verstehen anderer Menschen hilflos sein. Eine Behinderung ist das.
Solche Verstümmelung findet sich bei Einzelnen, noch nicht als gesamtgesellschaftliche Spracherscheinung.
Nach meinem Erleben bis vor Kurzem ist die Ausbildung von Lehrern in D hochstehend. Die Ergebnisse können sich in der oft gescholtenen Jugend sehen lassen. Das gilt aber nicht für alle.
Dort könnte auch ein Ansatz liegen für Sprachpflege: gerechter Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. Der Zugang steht offen, jedoch nicht die Unterstützung durch Bildungswege hindurch. Aber selbst das ist vor Ort besser als es jemals war (außer vielleicht in der ehem. DDR bis zum mittleren Abschluss, danach war von offenem Zugang nicht mehr die Rede).
Das Erlernen „toter Sprache“ schadet nicht (außer währenddessen *g). Desto bunter, liebenswerter und verständlicher ist einem dann die Muttersprache. Dass dort Teile absterben, gehört dazu. Andere Sprossen treiben dafür aus.
Vorsicht ist geboten, wenn Sprachpflege zu Sprachnationalismus führt. Das Deutsche ähnelt historisch mehr einem Pressschinken als „sauber“ am Stück gewachsen. Die Anglizismen wachsen ein und werden verdaut, wenn sie nützlich sind. Letztlich ist es nicht die Schönheit, sondern die Zweckdienlichkeit, die das Wachstumshormon von Sprachen ist.
Der Luxus einer Binnen-Kunstsprache, neben anderen Varianten parallel, ist kein Maßstab. Diese seit Jahrzehnten geführte Genitiv-Auseinandersetzung bin ich über. Nichts hört sich schlimmer an als ein doppelter Genitiv *g. Doch, ein dreifacher im Beamtendeutsch. Was ich bedaure ist der schludrige Umgang mit Konjunktiven. Die zu beherrschen in verschiedenen Zeitformen ist im Deutschen nur noch Brauchtumspflege für Liebhaber, die niemand mehr lieb hat. Und so kompliziert, dass man dazu Kurse besuchen müsste. Einerseits schade, andererseits eine mögliche Erleichterung. Zeichensetzung ist mir auch immer noch ein Graus, obwohl die Regeln angeblich einfach sind. Da war die letzte Reform ein Segen.