Mein Blick wandert wehmütig zu dir. Du hast es gut. Du liegst einfach da. Du brauchst nicht zu suchen, nicht zu wählen. Ich bin diejenige, die sich damit quält, seitdem ich mich für Dich und für meinen Weg entschieden habe. Ich habe Dich zu meinem Talisman erklärt.
Der Tag ist noch jung, als ich aus dem Fenster des Wohnzimmers auf den großen Kirschbaum blicke. Dessen Blätter färben sich allmählich gelb, der Herbst hat den viel zu kurzen Sommer abgelöst. Ich lasse den Blick über das angrenzende Feld schweifen. Der Weizen ist längst abgeerntet, der Boden umgepflügt und winterbereit. In der Ferne sehe ich die Silhouette der Stadt. Um mich herum herrscht Stille, ich bin allein, sinniere. Wieder ist ein Jahr vergangen und liegt als dunkler Schatten hinter mir.
Träge löse ich mich aus meiner Starre und gehe zum Schrank. Eine schlichte rustikale Anrichte aus den Zwanziger Jahren, massive Eiche, dunkel gebeizt. Ich mag alte Möbel, sie haben gelebt, bergen unzählige Erinnerungen und Geheimnisse. Der Schlüssel steckt im Schloss, wie üblich. Außer, wenn Besuch kommt. Ich sinke auf die Knie, öffne die geschwungene Tür, rieche das alte Holz. Alles in diesem Schrank hat seinen Platz, seit Jahren, einiges ist unbenutzt. Obenauf liegt ein Halsband. Ich nehme es behutsam aus dem Schrank, betrachte es. Es ist mein Talisman.
Gedankenverloren streiche ich über das glatte Leder, zeichne sanft mit dem Finger die feinen Nähte nach, ertaste die kalte Schließe. Meine Augen geschlossen, frage ich mich immer wieder: „Wozu brauche ich Dich? Seit Jahren liegst Du in meinem Schrank und wartest auf den einen, dem ich Dich bedenkenlos überreichen kann. Der Dich eng um meinen Hals legt. Der Dich zum ersten Mal schließt. Der zum ersten Mal sanft an Deinem Ring zieht, um mich zu führen.“
Traurig gestehe ich mir mein Versagen ein. Nein, ich habe nicht versagt, ich bin nur nicht dem Richtigen begegnet. „Du hast keinen Einfluss, bist nur ein unbenutzter, ungetragener Gegenstand. Leer, ohne Erinnerung an Lust und Schmerz, ohne Seele“, korrigiere ich mich selbst.
Der Ring schlägt leise auf den Tisch, als ich das Halsband vor mir ablege und lange betrachte. Segen und Fluch der Selbstfindung. Ich erinnere mich an jene kalten und windigen Dezembertage, an denen ich zum Shoppen in London unterwegs war...
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