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Mauersegler

Eine Begegnung an einem deutschen Ostseestrand in den 80-er Jahren zieht zwei junge Menschen in den Strudel leidenschaftlicher Verstrickung. Heute werden sie sich wiedersehen und einer nie gestellten Frage gegenüberstehen.

Eine BDSM-Geschichte von Nachtasou.

  • Info: Veröffentlicht am 15.02.2020 in der Rubrik BDSM.

  • Urheberrecht: Veröffentlichung, Vervielfältigung oder Verwendung sind nicht erlaubt. Mehr.

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Bild: Schattenzeilen, Midjourney

 

1. Anreise

 

Er schreckte von der Druckwelle eines entgegenfahrenden Zuges auf, die sein Abteil wie eine Pappschachtel schüttelte, um nach Sekunden abrupt den Blick auf die hügelige Landschaft wieder frei zu geben. Welche Kräfte da am Werk sind. Dabei ist es so geruhsam an einem Fensterplatz. Die Regentropfen zogen Schlieren auf der Glasscheibe vor Feldern, die sich als nasser Filz ausgebreitet an ihm vorbei drehten. Über dem Fenster hing ein Hämmerchen mit der Aufschrift: Missbrauch strafbar.

Es war Schlafenszeit. Nicht zu tief, denn Zielbahnhof ist Stralsund. Harry legte die Beere seines rechten Zeigefingers auf die Rückseite des Mobiltelefons, um vorn die Uhrzeit ablesen zu können.

Diese Strecke war er vor dreißig Jahren einige Male gefahren, um die Großmama in Wolgast außerhalb der Transitrouten zu besuchen. Das erste Mal, als Opa Karl starb. Dann, um Katja heimlich in Ludwigsburg bei Lubmin zu treffen. Katja mit den zwei Gesichtern. Nachdem sie ihren Ausreiseantrag gestellt hatte, war Schluss damit, sie war schließlich Lehrerin. Selbst rüber zu gehen, war von ihr vereitelt worden. Was hätte er auch anzubieten gehabt? Zwar gab es Messen der Meister von morgen, womit jedoch anderes gemeint war. Nicht die Fachhochschule in Darmstadt.

Da war dieser Telefonanruf kürzlich gewesen, mitten am Tag. Harry hatte seinen Begrüßungstext herunter geschnurrt, weil das Büro nicht besetzt war.

»Harry?« Den Tonfall, die Stimme, hatte er sofort erkannt. Dem Angesprochenen fielen keine Worte ein. Er schwieg einfach und hielt den Atem an.

»Hörst du mich? Ich bin es, Katja. Ich habe einen Anschlag auf dich vor.«

Der Satz traf ihn wie eine Kugel in die Schläfe.

»Ich ... das ist ja eine Überraschung.«

»Ich habe dich im Internet recherchiert.«

»So so. Ja, das geht ... wie geht es dir, Katja? Bist du wohlauf?«

»Geht so. Ich werde 60 demnächst. Ich möchte, dass du mit mir feierst. In Ludwigsburg bei Lubmin.«

»Ich habe auch deine Adresse.«

»Es ist die alte. Ich bin ja nicht umgezogen.«

»Natürlich nicht. Schön, von dir zu hören.«

»Also, kommst du?«

»Am 13. Januar. Ja, das richte ich ein.«

»Ja, nicht wahr?«

»Was wünschst du dir? Ich meine, hast du einen Wunsch?«

»Nein, komm einfach, was fragst du.«

»60 ... ich hatte letztes Jahr Geburtstag.«

»Wie hast du ihn verbracht, Harry?«

»Ich hab ihn herumgebracht. Was machst du?«

»Mir gehts gut.«

»Mir auch.«

»Trotzdem. Ich dachte, es könnte eine Überraschung sein.«

»Das ist dir gelungen. Ich bin dicker geworden.«

»Das kommt mit den Jahren.«

»Nicht alles. Manches verschwindet auch.«

»Ich erinnere mich gern.«

»Ich komm. Versprochen. Das ist ja eine Überraschung, dich zu hören.«

»Du hast mich sofort erkannt.«

»Das ist nicht schwer.«

»Du bekommst es noch schriftlich, Harry. Dann gibt es Genaueres. Ich bin ja noch in der Planung.«

»Wir können auch telefonieren.«

»Tun wir doch gerade.«

»Ich leg jetzt auf.«

»Nein, leg nicht auf. Ich lege auf.«

 

Vom Umsteigebahnhof Berlin hoch an die Ostsee zieht es sich noch einmal. Die Zugtoiletten mied Harry wie gewohnt. Der Service war sogar noch schlechter geworden über all die Zeit. Heute fragte man ein uniformes Handy, wo man ist und wann man wo sein wird. In Pasewalk Richtung Stettin zum Beispiel. Aber nur zum Schein, denn auf halber Höhe biegen die Gleise wieder nach Westen ab.

Während Harry mit der Schläfe an der Fensterscheibe Stützung sucht und ihm der Gitterrost trockene Heizungsluft in die Augen blies, erinnerte er den Sommer vor dreißig Jahren:

 

 

2. Drohung

 

Er blinzelt in die Sonne und spielt mit der rechten Hand im Sand. Wenn er die Finger in die winzigen Körner versenkt, wird es dort unten kühler. Aber immer noch ist es trocken. Wie tief müsste er im Strand graben, um auf Nässe zu stoßen? Er schätzt die Entfernung des Wassersaums bis zu seinem Liegeplatz auf 20 bis 25 Meter. Bei einem Anstieg des Sandstreifens von drei Grad ... Mit Pythagoras ließe sich die Grabtiefe ermitteln. Während er in Gedanken Zahlenquadrate hin- und herschiebt, trifft ihn ein Schatten. Harry öffnet träge einen Spalt breit die Augen und sieht den Umriss einer schmalen Person. Ihr Kopf verdeckt die sengende Sonne.

»Du siehst aus wie eine Sonnenfinsternis«, sagt er vorwurfsvoll.

Das Persönchen plumpst neben ihm in den Sand. Es ist ein Mädchen. Eine junge Frau. Da sie nun vom Licht beschienen wird, ist ihr Gesicht zu erkennen. Rotes Haar. Das auch noch.

»Sie werden einen Sonnenbrand bekommen, wenn Sie noch länger hier ungeschützt herumliegen«, warnt sie ihn.

Nein, denkt er. Ich werde braun. Im Gegensatz zu dir Käseschnitte, die einfach nur verbrennt.

Harry bequemt sich auf und stützt den Oberkörper auf die Ellenbogen. Der Untergrund drückt sich schmerzhaft in seine Gelenke. Er spielt mit den Zehen, als wären sie eingeschlafen.

»Hallo erst mal«, sagt er interessiert. Ihr ist das recht. Sie lässt absichtlich die hellen Quarzstückchen so durch ihre Finger rieseln, dass die Brise die feinsten von ihnen auf Harrys Brust weht. Er schaut dieser Provokation ins Gesicht. Es trägt eine Sonnenbrille und einen Strohhut und ihre Lippen glänzen. Wie zur Entschuldigung hebt sie die Augenbrauen, als wollte sie sagen, dass sie für den ablandigen Wind nichts könne. Pech gehabt. Jetzt wehen die Körner auf seinen nackten Bauch. Den spannt er sowieso durch die Körperhaltung an, was seine Muskeln günstig hervorhebt. Harry schaltet zwangsläufig auf Brustatmung um. Das kann nicht schaden. Außerdem dreht er sich zur Seite, damit die kleinen Pakete von der Sonne so beschienen werden, dass sie plastischer erscheinen.

»Ich bin Harry. Und Sie stören meine Kreise. Ich bin gerade am Rechnen. Ich errechne, wie tief ich graben müsste, um auf nassen Sand zu stoßen.«

»Bis zum Ellenbogen«, antwortet sie sofort.

»Ah ja? Wie kommen Sie darauf?«

»Weil ich das ausprobiert habe. Schon als Kind.«

Harry gibt sich geschlagen und lässt sich aufstöhnend nach hinten fallen. Hätte er das nur nicht getan, denn nun sieht sein Bauch wieder flach und eingedrückt aus wie seine Brust auch. Er beschattet mit einem Arm die Stirn und fragt: »Sie kommen regelmäßig in die Ferien ...?«

»Nein. Ich wohne hier in der Nähe.« Sie streckt sich aus und legt sich dreist parallel neben ihn. Sie klärt ihn auf: »Ich bin Katja.«

»Angenehm. Wir liegen wie die Heringe.«

»In Öl.« Sie lachen beide und schweigen.

»Ich habe Sie gestern bereits hier gesehen«, greift sie den Faden wieder auf.

»Bin ich so auffällig?«

»Irgendwie schon. Sie laufen komisch und gucken sich Steine an.«

»Es gibt interessante Steine da vorne.«

»Ja, aber die liegen ganzjährig dort. Und wenn es nicht diese sind, sind es andere. Ganz normal.«

»Sie glauben bestimmt, ich sei aus Berlin.«

»Nee«, lacht sie auf, »bestimmt nicht.«

»Und Sie?«

»Ich genieße die Ferien. Die sind kurz für mich. Die restliche Zeit bin ich zu einer Schulung delegiert und dann zwei Wochen im Rinder-Stall oder in der Meliorisation. Bleibe noch eine Woche.«

»Ich bin auch nur ein paar Tage da. Bei meiner Großmutter. Eigentlich zu einer Beerdigung. Dann gehts wieder zurück. Wir sollten uns zusammentun«, fügt er neckisch hinzu.

»Ach ja? Warum denn?«

»Sie hätten jemanden, der ihren Rücken eincremt.«

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Kommentare von Leserinnen und Lesern

Hekate

Autorin.

24.10.2020 um 04:43 Uhr

Ja, die Deutschen, könnt ich sagen. Aber wir waren ja auch dabei in Wien, ich sehe die Bilder. Aber nach dem Krieg natürlich nicht. Ist schon eine ganz heiße Sache, was die gemacht haben in ihrem Deutschland. Und wie das nachwirkt, das Zweiländerding. Und dabei ist jeder auf seiner Seite so wichtig, so überzeugt, so klar, bis die Papphäuser zusammenfallen. Da bleibt nicht viel für Liebe. Nur armselige Versuche. Die Zeit frisst die Jahre. Was für eine Melancholie im Text. Was für ein Fundstück, wie Bernstein und Hühnergott geeint ist diese Geschichte. So ein Tiefgang in einer SM-Story ist rar. Und immer zeigend, nie wertend. Weißt du, was das ist? Ein Film. Aber ich fürchte, fürs Fernsehen ist er zu gut.

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17.08.2020 um 00:37 Uhr

Sehr schöne lange Geschichte, danke für die Mühe.

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Nachtasou

Autor. Korrektor.

22.03.2020 um 01:16 Uhr

Tek Wolf und Missisippi: danke für´s Kommentieren. Onmymind, ja, ein Mauersegler ist ein Vogel, der sogar im Flug schläft. Hanne-Lotte hat dankenswerterweise einige kulturelle Schnitzer ausgebügelt. Söldner, Dir entgeht nichts *g.

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Onmymind

Autorin.

29.02.2020 um 13:07 Uhr

Ich habe so meine Probleme, aussagekräftige Kritiken zu schreiben. Ein Dilemma, denn dieses Stück Literatur, da stimme ich ganz mit Söldner überein, verdient nichts anderes. Mit Bewunderung lese ich hier, wie es so manchen gelingt. Seit ich den Mauersegler gelesen habe, der auch mein absoluter Favorit dieses Wettbewerbs war, überlege ich, wie ich es am besten formulieren soll. 

Zum Titel: Der Mauersegler ähnelt laut Wikipedia der Schwalbe und ist ein „Langstreckenzieher“. Wie bezeichnend. Obwohl die Entfernung zwischen Ost und West nicht unbedingt weit ist, war es doch so fern. Ich stelle mir einen Vogel vor, wie er seine Flügel ausbreitet und über die Mauer segelt. Das Bild von Freiheit und blauem Himmel wird unterbrochen, wenn ich den Blick senke. Authentisch. Der Autor hat es selbst erlebt. Das wird sofort klar. Gleich nach den ersten Zeilen. Ich meine keine geographischen Fakten, die könnte ich als Österreicherin recherchieren, es geht um ein bestimmtes Sehnen.

Zu Beginn Harry, der im Zug sitzt, gen Osten fährt und sich an früher erinnert. Lange ist der diese Strecke nicht mehr gefahren. Seine Großeltern werden liebevoll und bodenständig beschrieben. Ich möchte am liebsten mehr über die beiden erfahren.

Der Grund seiner Reise ist Katja, an die er sich erinnert. Er beschreibt es als Affaire, doch es war viel mehr als das. Hach, Katja … Nachtasou schafft es, das ich mir alles bildlich vorstellen kann. Die Szene am Strand ist atemberaubend mit all den kleinen Details. Der feuchte Sand – seufz – das Wasser, Sonne auf der Haut. BDSM ist hier nicht klischeehaft sondern ganz natürlich. Und dazwischen so viel Gefühl und das völlig unaufdringlich, fast nebenbei. Sie entfremden sich, eine Mauer trennt sie. Doch die Mauer steht nicht mehr und die Zeit ist nicht von Dauer.

Es sind so viele Nuancen, als wäre es ein ganzer Roman und darin liegt für mich die eigentliche Faszination.

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16.02.2020 um 10:58 Uhr

Brilliant geschrieben.

Danke für die anregende Sonntag-Morgen-Lektüre.

M.

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Tek Wolf

Autor. Förderer.

15.02.2020 um 14:32 Uhr

Lieber Nachtasou, das ist ja fast ein kleiner Roman, und was für einer. Schillernd, voller Emotionen, schöner Details, Orte, Beschreibungen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie viel Arbeit da drinsteckt. Aber ich weiß, es ist viel Talent mit verbaut. Eine wirklich tolle, gefühlvolle Geschichte, die zwei Leben beschreibt, die zusammenlaufen und wieder auseinanderdriften. Hiebe in Zeiten der Mauer. Du kannst es nicht sehen, aber ich ziehe gerade den virtuellen Hut vor dir und verbeuge mich tief. Da hast du ein tolles Stück Literatur geschaffen. Danke, dass wir es lesen durften.

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Söldner

Autor. Korrektor.

15.02.2020 um 06:56 Uhr

Ich erlebe, dass Du mir nichts erklären möchtest. Nicht einmal verdeckt. Weißt Du, was ich damit meine? Du nimmst dich völlig raus. Das ist kein Text, der in zwei Tagen geschrieben wird, keine gute, schnelle Geschichte mit Pointe, Aha-Effekt und Überraschung. Ich denke, Du hast an der Geschichte wie ein Bildhauer gesessen.

Weisheit ist ein Zustand, in dem der Mensch aufhört, Anderen die Welt erklären zu wollen. Du gehst noch einen Schritt weiter. Du zeigst ohne Wertung, und das ist ein Kunststück.

Gehen wir in den Text? Zu Beginn Spiel mit den Zeiten, Gegenwart, Vergangenheit, ich lese unruhig.

Beim ersten Dialog am Telefon halte ich die Luft an. Ein Knistern, ruhend auf intensivem, besonderem Kennen über Zeiten, eine Begegnung nach der Schlacht. Und hier könnte schon Schluss sein.

Der Rückblick zieht mich so in vergangene Zeit, dass ich teilnehme. Wie sich Harry bemüht, ist mir fast unangenehm, das kenne ich, es holt mich ein.

Der sanfte SM-Kontext wirkt auf mich zu Beginn fast störend, als hätte ein Gärtner Koniferen zwischen Lilien und Rosen gesetzt, weil es der Hausherr so vorgibt. Aber gleich darauf dreht sich die Szene, schafft eine besondere Basis, macht vertraut, wird wichtig. Und was für eine Stimmung, so zeitlos der Sand, das Meer, Kiefern und Geruch nach Sommer. Harry und Katja glauben auf unterschiedliche Weise, einen Bund schließen zu können in Sommer und Getreide fern der Macht. Fort scheint die Monstrosität, das Große, die Einflussnahme der Zeit. Und Katja? Mensch, Nachtasou, ich denke, den eigentlichen Hammer in Deiner Geschichte wird man überlesen. Aber er ist nicht mehr wichtig. Manchmal braucht es dreißig Jahre bis Dinge gehen, bis genug Milde ist.

Doch irgendwo war da etwas, das Harry und auch Katja durch die Zeiten trug, stärker als jedes System, aber auch filigraner und verletzlicher.

Gut tat es mir, eine Geschichte von jemandem zu lesen, der weiß, worüber er schreibt.

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