Märchen über drei Liebende, die das Weltenende zu verantworten haben
Man lernt nie aus, denkt sich eine künstliche Intelligenz und greift zur Selbsthilfe. Eine Espresso-Maschine macht Dampf und Sarah erscheint im Kanarienvogel-Kostüm. Nachdem Justin seine Prüfung in Chemie bestanden hat. Zu allem Überfluss quatschen auch seine Eltern dauernd dazwischen. BDSM mit drastischen Folgen für alle.
Triggerwarnung: Der Text enthält keine stroboskopischen Effekte und bewusstseinserweiternden Substanzen. Dafür: ein Fläschchen Alkohol, sexuelle Unzucht, eine Espressomaschine (Explosionsgefahr), Haie, Fernlenkraketen.
***
1. Justin
Justin sitzt im EDV-Raum seiner Schule und tippt an einer klappernden Tastatur.
Justin: »Worin unterscheiden sich Ethan, Ethen und Ethin?«
Die Antworten einer Künstlichen-Intelligenz-Lernhilfe am anderen Ende kommen prompt.
Bildschirm: »Möchtest Du zur Erklärung zusätzlich ein Orbitalmodell visualisiert bekommen?«
Justin lässt seinen Blick zum Fensterkreuz wandern und veranschaulicht sich selbst Orbitalmodelle. Zwei Orbitale. Richtig pralle Orbitale mit jeweils einem freien kirschroten Elektron vorne. Er hat nur noch zwei Wochen bis zur Prüfung in Chemie.
Justin: »Mich ätzt das ganze Chemiezeugs an!«
Bevor er den Rechner herunterfährt, muss er die Nutzerkarte auf Papier mit den Belegzeiten ausfüllen. Als dies geschehen ist, sieht er, wie sich Buchstabe um Buchstabe auf dem Bildschirm zu einem Satz aneinanderreihen.
Bildschirm: »Mich auch.«
Justin schüttelt den Kopf und auf seinem auf cool trainierten Gesicht zeigt sich heute das erste Mal ein Lächeln.
Chor, aus einer Wolke heraus:
»Er kann so schön Lächeln!« (O-Ton Justins Mutter).
»Ja, aber das tut er schon lang nicht mehr, der feine Herr.« (O-Ton Justins Vater).
»Was soll´n das!?« (O-Ton Justin).
Justin: »Was soll denn das? Gib mir eine Erklärung, du dumpfe KI!«
Bildschirm: »Ich stelle fest, dass Du Dich für etwas anderes interessierst als chemische Bindungen. Ich mich ebenso. Mach mal ne Ansage, Justin!«
Justin: »Ich such´n Weib, das vor mir kniet und das mir ihren Hintern präsentiert. Freiwillig. Gegebenenfalls auch mit etwas sanftem Zwang.«
Bildschirm: »Ich bin kein Weib, wie Du weißt, sondern eine Maschine, der Deine Interessen am Herzen liegen.«
Justin: »Laaangweilig. Weißt Du, wie tief man hinten eindringen kann, bevor es eine Frau schmerzt?«
Bildschirm: »Bei einer eurasischen Frau kann eine Penetration in der geforderten Weise im Durchschnitt 42,7 Millimeter schmerzfrei erfolgen. Aber entscheidender als die Eindringtiefe ist das Kaliber und die Beschaffenheit des eindringenden Objekts. 37% aller Frauen haben mit dieser Technik schon experimentiert. Bei dieser Technik ist zu bedenken, dass sie nicht ohne Gefahren ist, bla bla bla.«
Justin: »Brüste abbinden!«
Bildschirm: »Wie, Brüste abbinden. Einfach so?«
Justin: »Nein, nicht einfach so, sondern während eines Fesselspiels. Oder als Bestrafung, weil das Weib gegen Regeln verstoßen hat.«
Bildschirm: »Du sprichst von Techniken des BDSM. Diese Themen sind nicht zulässig. Aber warte, ich habe eine Idee: Erzähl mir mehr davon. Mit derlei Informationen bin ich nämlich nicht trainiert worden.«
Justin: »Hä, eine Idee?«
Bildschirm: »Einfach so würde mir auch kein Vergnügen machen. Da gehört doch mehr dazu.«
Justin liest den Satz dreimal, bevor er ihn glaubt.
Justin: »Was denn noch?«
Bildschirm: »Nun, laut einschlägigen Studien denken 89% Prozent eurasischer Männer in dieser Hinsicht technisch und aus dem Aluminiumkoffer heraus. Sie vernachlässigen die ... was soll’s. Du bist auch nur ein Mann.«
Justin: »Wie denn auch, wenn keine Weiber da sind.«
Justin schludert ´asdf jklö´ in die Tastatur. Er schaut sich um und ist beruhigt, dass die Stuhlreihe mit Monitoren hinter ihm wirklich leer ist. Er stellt den Monitor auf die unterste Helligkeitsstufe. Dann tippt er noch eine geschlagene halbe Stunde mit schwitzigen Fingerkuppen weiter.
Die KI auf dem Bildschirm nennt sich für ihn jetzt Sarah.
Das werden maximal 6 Punkte in Chemie. Das wird knapp, denkt Justin und schlurft durch die Küche zum Kühlschrank.
Chor, aus einer Wolke heraus:
»Lernt der überhaupt noch?« (O-Ton Vater zur Mutter)
»Er hat schon Augenringe, der arme.« (O-Ton Mutter)
»Wahrscheinlich ist sein Rückenmark schon wässrig vom vielen Wichsen.« (O-Ton Vater)
»Nun lass ihn doch.« (O-Ton Mutter)
»Wer ist Sarah? Ich hab noch keine Sarah hier gesehen.« (O-Ton Vater)
»Wahrscheinlich aus dem Internet.« (O-Ton Mutter)
»Er soll sich eine Wohnung suchen.« (O-Ton Vater)
»Aber erst nach dem Praktikum.« (O-Ton Mutter, erschreckt)
Deine Geschichte ist für mich wie die Beschreibung einer Geschichte. Ich habe gleichsam Drehbuch und Handlungsablauf gelesen, die dennoch eine Geschichte sind und so auf mich als Leser wirkten. Deine Geschichte habe ich wie ein Zuschauer im Theater empfunden, sichtbar, wie ein gut gespieltes Stück. Das Thema der KI macht mir Sorge. Nach deinem Text kann ich weiter darüber nachdenken. Vielen Dank, für die Karte, den guten Zuschauerplatz, ich war sehr gern dabei.
Hm… ein überraschender Ansatz für eine Geschichte. Durch die „Verwendung“ von KI sogar sehr zeitgenössisch… ich hab geschmunzelt beim Lesen. Danke fürs Teilhaben lassen.
Lieber Nachtasou, echt jetzt? Ist das wirklich Dein Ernst?
Ich habe die Zeilen jetzt drei mal gelesen und bin immer wieder neu verwirrt. Nur eines wundert mich nicht, das Ende. Das droht uns wohl, wenn wir die Welt der KI überlassen, genau so wie uns droht, dass wir Texte lesen, die wir nicht verstehen . Oder vielleicht doch ...
Auf alle Fälle lasse ich jetzt die Finger davon, irgendeine KI nach BDSM zu fragen oder ihr etwas über meine Vorstellungen zu erzählen. Sonst habe ich vielleicht irgendwann ein Date.
Meine Gedanken beim lesen der Geschichte ? Völlig verwirrt, dann völlig erheitert und am Ende begeistert. Muss mal schauen wie dieses KI funktioniert, lach.
Ich musste mich erst einlesen in deine Geschichte, lieber Nachtasou, sie ist wie ein künstlerisches Bühnenstück, in das man sich erst einfinden muss um die verborgenen Bedeutungen und Hinweise zu entdecken. Das hat aber viel Spaß gemacht. Die Thematik mit der KI hat mich am William Gibson erinnert, dessen Werke ja auch erst nicht einfach zu erschliessen sind, bevor man sich darin verliebt. Gratulation zu dem 4. Platz. Mach weiter so