Auf die Wand hatte Hiroshi ein großes Laken gespannt, an das die Bilder, die Marie nun auswählte, neun an der Zahl, gepinnt werden sollten. Genau so, wie sie dann im Zimmer ihrer Herrin aufgehängt werden sollten. Als Geschenk ihrer Dorei, ihrer Sklavin. Eine Geschichte vom Einatmen und Ausatmen.
Es hatte gerade zu regnen aufgehört, als sie aus der Straßenbahn stieg. Sie trug ein weißes Kleid mit orangenen Blüten und darüber eine Jeansjacke. Selbst die Sandalen konnte ich von hier, aus dem Fenster im vierten Stock, sehen. So hatte sich mein Blick mit einem Mal geschärft, als ich sie erkannte. Behände sprang sie über die Wasserlachen und zwischen den fahrenden Autos durch. Pass bloß auf, dachte ich, aber da war sie schon am Gehsteig und hielt auf das Haus zu. Keine zwei Minuten später klingelte es an der Tür und ich öffnete.
»Hallo Hiroshi«, begrüßte sie mich und ihr Lächeln war wie ein Sonnenaufgang.
»Konnichi-wa, Marie«, antwortete ich und verbeugte mich kurz, ehe wir uns auf die Wangen küssten.
Sie trat ein, die Schuhe ließ sie vor der Tür, ich kniete mich nieder und zog ihr die Hausschuhe an. Sie ließ es geschehen, bedankte sich mit einem akzentfreien Arigatò und trat ein.
Nachdem sie Jacke und Tasche abgelegt hatte, führte ich sie in das Washitsu, den großen Raum. Vor dem Tatami-Tisch stehend, den Kopf gebeugt und die Hände gefaltet, wie es die Tradition vorschreibt, wartete sie auf die Meijin, meine Meisterin.
Sakura ließ sich Zeit, obwohl sie schon den ganzen Vormittag in brennender Geduld, wie sie es nannte, auf Marie gewartet hatte. Ganz offensichtlich war sie sehr beeindruckt von ihr gewesen. Von ihrer Disziplin, von der Liebe zu ihrer Herrin, vor allem aber von der Tapferkeit, mit der sie das Kinbaku samt dem fast zweistündigen Tsuri ertragen hatte. Aber die Tradition verlangt, dass eine Fukujuu, die Person, an der das Kinbaku vollzogen wird, auf die Nawashi, die Seilmeisterin, wartet. Nicht umgekehrt. Schließlich aber war es soweit, dass Sakura die Schiebetür aufzog und in das Washitsu eintrat.
Marie faltete erst die Hände vor der Brust, dann verbeugte sie sich tief. »Konnichi-wa, Sakura-san!«
»Konnichi-wa, Marie«, erwiderte meine Meisterin den Gruß, »Genki desu ka?«
»O kagesama de genki desu«, antwortete Marie und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte eine andere Antwort als »In deinem Schatten geht es mir gut!« das Protokoll nicht erlaubt.
»Dein Japanisch ist vorzüglich, mein Kind«, lobte Sakura und blieb vor Marie stehen, die ihren Blick weiter gesenkt hielt. Sie lächelte, dann nahm sie Marie am Kinn und hob ihren Kopf an. »Und deine Manieren auch. Aber setzen wir uns doch.«
Sie deutete auf die Sitzkissen vor dem Teetisch, auf dem ein Räucherstäbchen dezenten Duft verbreitete. Marie wartete, bis sich Sakura gesetzt hatte, dann nahm sie selbst Platz. In einem perfekten Seiza, dem Fersensitz, der von allen Frauen bei uns praktiziert wird.
Sakura griff nach dem Gong unter dem Tisch und gab mir das Zeichen, den Tee aufzutragen. Sie wartete, bis ich Kanne und Tassen gebracht hatte, sprach dabei kein Wort und ließ Marie nicht eine Sekunde aus den Augen. Ich zog mich zurück und wartete respektvoll, bis meine Zeit gekommen war. Sakura schenkte Marie zuerst Tee ein, danach sich selbst. Eine Ehre, die sie selten jemand zuteil kommen ließ, schon gar nicht einer Gaijin, einer unserer Kultur Fremden. Marie wusste diese Ehre sehr wohl zu schätzen, denn sie errötete sichtbar.
Ich danke für den Einblick in eine Kultur, die ich nicht kenne. Es spielt keine Rolle, ob ich mit den Regeln und Förmlichkeiten etwas anfangen kann oder nicht. Darüber zu lesen ist für mich interessant, hilft mir im Verständnis.
Die Ausführungen zur Fesselkunst haben mir gefallen.
Mir gefällt die unaufgeregte Stille, die in der Geschichte herrscht. Die Erzählweise trägt die Besonnenheit und Unaufgeregtheit diesen Teils der japanischen Kultur in die Geschichte. Trotzdem ist die Erzählung voller Spannung. So empfinde ich es. Kultiviertheit und gegenseitiger Respekt heben Sinnlichkeit und Lust auf eine ganz neue Ebene.
Interessant wird das Ganze für mich dadurch, dass für die Erzählerperspektive ein literarisches Ich gewählt wurde, das der Autorin im Leben offenbar bekannt ist und dass sie dies dem Leser auch mitteilt. Durch diese Blickweise wird das Ganze noch einen Tick reizvoller.
Eine schöne Geschichte über das, was Menschen verbindet, wenn sie Besonderes geteilt haben.