Eine „Was-Wäre-Wenn“-Geschichte ist das, keine Science Fiction, sondern Social Fiction gewissermaßen *g; die durch das Stilmittel der zweiten Person an besondere Intensität gewinnt. Damit wird die Erzählperspektive zu der des Lesers, was im Fall eines Schlaganfalls heftig wird. Ich fühlte beim Lesen mein eigenes Widerstreben. Erotische Perspektiven sind einfacher zu übernehmen.
Dass sich der Ablauf als Traum entpuppt, mildert die Heftigkeit keineswegs, und somit wird für die Hauptperson dieser Traum wahrscheinlich nicht folgenlos bleiben: ein Atemzug noch, heißt es. Der Betroffene hat an Sicherheit verloren, und sein Doppelleben steht auf noch dünnerem Eis als bisher.
Er führt bislang eine Spielbeziehung ohne Liebe, und eine liebevolle Ehe unter Ausschluss seiner sexuellen Neigungen. Er gerät im Traum in Not und würde vielleicht bis zum Lebensende auf eine tragfähige Partnerschaft angewiesen sein, was ihm seine Spielbeziehung nicht bietet, für die er „untauglich“ geworden ist. Nun, „untauglich“ wird er auch in seiner Ehe bleiben, nur würde seine Frau dies auf sich nehmen. Genauso wie er sie nicht als „untauglich“ erachtete, nur weil sie seine Neigung nicht teilt. Seine Lösung war dennoch die des „schonungsvollen Betrugs“.
Vielleicht ist das gar nicht so eine seltene Konstellation. Sag ich's oder sag ich's nicht? Dabei geht es nicht um Wahrheit; gerade in Nahbeziehungen ist Wahrhaftigkeit kein Wert an sich. Manches mag in Nahbeziehungen besser unausgesprochen bleiben, vertagt, übersehen, und ja, gerade aus Liebe. Partnerschaften sind vielleicht der einzige Lebensort, in denen der Moment und die zeitlose Perspektive wichtiger sind als die Dauer-Evaluation und Transparenz, die uns alle zum Geber, Nehmer und Vermittler macht: überall Tausch, Wert und Transparenz. In der Liebe liegt Geheimnis, die letzten überhaupt vielleicht.
Dagegen ist eine Neigung aber zu wichtig, um verheimnisst zu werden. Weil die Beziehung das gemeinsame Heim ist und eine Neigung nicht irgendein Merkmal unter vielen, sondern zum Wesenskern eines Menschen gehören kann, die angibt, in welcher Beziehungsform er am besten gedeiht.
Nicht zufällig teilen Heim und Geheimnis den gleichen Wortstamm. Obwohl ich wahrlich nicht der mutigste Zeitgenosse bin, bin ich nie (!) auf Ablehnung gestoßen, wenn ich meine Neigungen eröffnet habe. Allerdings heißt die Billigung dann natürlich auch nicht gleich Beteiligung. Ich wage mir kaum auszumalen, wie viel Qualen der Protagonist mit seiner Heimlichtuerei unter Ausschluss seiner Frau seit Jahrzehnten auf sich genommen hat. Das grenzt an Selbstbetrug.
Ein guter Zeitpunkt für Ehrlichkeit bezüglich Neigungen ist nach meiner Einschätzung ganz früh, wenn Verliebtheit noch über Ecken und Kanten hinwegsieht, oder die Verwicklungen anderer Art noch nicht so kompliziert sind. Dann gehört die Neigung sozusagen zum „Beziehungsrahmenvertrag“ von Anfang an dazu (würde Sheldon Cooper sagen *g). Ob geteilt oder nicht geteilt. Eine immense Entlastung ist es auf jeden Fall, wie ich finde. Aber Wege gibt es auch andere.
Wenn es einen "Klassiker-Kanon" für BDSM-Abiturienten gäbe, würde diese Geschichte mit zur Grundausstattung gehören.