Lynna trank einen Schluck von dem Mix aus Rote Beete, Karotten und Apfelsaft. »Ich kann nicht einfach so abhauen. Wir sind mitten im Semester. Ich habe Lehrveranstaltungen jede Woche. Bei Merle sieht es genauso aus. Die Chefin würde uns jetzt niemals zu Ausgrabungen in alle Welt fahren lassen.« Sie bemerkte im selben Moment, dass sie gelogen hatte. Ihre Professorin hatte sie vor ein paar Tagen erst zu der Reise angeregt.
»Merle?«, fragte Boris. »Was hat sie damit zu tun?«
»Ich dachte ...«, antwortete sie zögernd, » ... dass sie mit mir fährt«. Sie stoppte kurz. »Ich meine: Wir sind Freundinnen.« Sie unterbrach sich wieder. »Bei unseren Forschungsarbeiten sind wir immer ein gemeinsames Team gewesen. Wir würden nie allein ein Projekt anfangen.« Sie stockte und trank nervös einen Schluck von dem Red Juice. »Es ist so, Boris«, gestand sie schließlich. »Merle und ich sind zusammen.« Danach schwieg sie und blickte ihn unsicher an.
»Wie, zusammen?«, fragte er verständnislos. Lynna nickte nur leicht mit dem Kopf. Boris sog tief die Luft ein und richtete seinen Oberkörper auf. Falten traten auf seine Stirn, während er die Augen erstaunt hochzog. Allmählich begann er zu verstehen. »Ihr beide seid ein Paar?«, fragte er leise. Dann formulierte er genauer. »Seid ihr ein lesbisches Paar?«
Sie nickte. Gleichzeitig spürte sie Erleichterung und Unsicherheit über ihre Beichte. »Bist du jetzt schockiert?«, wollte sie wissen.
»Schockiert?«, wiederholte er, um Zeit zu gewinnen. Er musste in ein paar Sekunden sein Bild von Lynna neu sortieren. Seine Vorstellung von ihr bekam eine ganz andere Form. Lynna und Merle? Damit hatte er niemals gerechnet. Alles war soeben anders geworden. Nur die gut aussehende Frau ihm gegenüber war noch dieselbe. Und ihr Lächeln. Als er sie vorhin mit ihren blonden Haaren in bordeauxfarbener Lederhose und ebensolcher Jacke zum Date im »District Coffee« hatte kommen sehen, war er voller Erwartung gewesen.
»Nein, ich bin nicht schockiert«, antwortete er. »Überrascht ist das richtige Wort. Ja, überrascht bin ich. Du und Merle - das hätte ich nicht gedacht.« Er verlagerte mit den Händen auf den Bistrotisch gestützt sein Gewicht von einem auf das andere Bein. »Ihr seid doch Kolleginnen?«, fügte er hinzu und wusste sofort, dass er eine naive Bemerkung gemacht hatte.
»Ja, und?«, entgegnete sie und blickte ihn fragend an. Ihre graublauen Augen blitzten.
»Entschuldige!« Er wippte leicht nach vorn und hinten. »Das war dumm von mir. Was ich fragen wollte war, ob davon jemand bei dir auf der Arbeit weiß, also von eurer ... ?« Er wusste nicht weiter.
»Von unserer Beziehung wolltest du sagen«, ergänzte Lynna. »Davon wissen alle im Institut. Ich glaube sogar, manche finden uns richtig gut, anders eben.« Ein Hauch von Stolz war auf ihrem Gesicht zu erahnen. »Wie findest du es?«
»Ich?«, fragte er irritiert. »Dass du mit Merle zusammen bist?« Er überlegte. »Ich finde es okay. Ich habe keine Probleme damit. Es überrascht mich nur. Und ich habe auch keine Ahnung, das heißt, ich kenne niemanden, der ... « Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte.
»Du kennst niemanden, der homosexuell ist, meinst du«, half sie ihm weiter. »Seitdem ich mit Merle zusammen bin, wundert es mich, dass das so schwierige Wörter sind: homo, schwul, lesbisch. Keiner traut sich, sie wirklich auszusprechen.«
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