Mit dem Blick aufs Meer
Ihr Herz begann zu rasen. Was sie gerade gesehen hatte, das war doch, das war unfassbar, das durfte doch nicht sein, hier doch nicht, überhaupt nicht, nirgendwo. In den ersten Schrecken mischte sich Neugier. Jedenfalls öffnete Stella die Tür noch einmal, ganz langsam. Nein, sie hatte nicht geträumt.
Eine BDSM-Geschichte von Schattenwölfin.
Info: Veröffentlicht am 19.07.2013 in der Rubrik BDSM.
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Schon immer verbrachten sie die Ferien gerne am Meer. Am liebsten fuhren die Büsings - das heißt Stella und Fritz mit ihren Zwillingen Annika und Marita - an die Nordsee, die für sie bequem zu erreichen war. Seit einigen Jahren hatten sie ihre Insel und dort ihre Ferienwohnung gefunden. Sie durften den großen Jagdhund mitbringen und den Garten nutzen. Außerdem war die Wohnung für Inselverhältnisse wirklich günstig zu mieten. Über die Jahre, in denen Familie Büsing hier ihr Urlaubsquartier bezog, waren aus den Kindergartenkindern Jugendliche geworden, und zu den Vermietern hatte sich ein guter Kontakt entwickelt. Man schrieb sich zu Weihnachten und den Geburtstagen und setzte sich wenigstens einmal in jedem Urlaub zum Grillen im Garten zusammen.
Je älter die Zwillinge wurden, desto selbstständiger waren sie nicht nur zu Hause, sondern auch hier auf der Insel unterwegs. So konnte Stella auch mal einen ganzen Tag im Strandkorb verbringen und entspannt das Meer beobachten. Fritz hätte das wahnsinnig gemacht, er widmete sich gerne im Garten - und somit in der Nähe des Kühlschranks - den Büchern, die ihm im Alltag zu anstrengend zu lesen waren.
Dank der Vertrautheit vor Ort brauchten die Büsings keinerlei Eingewöhnungszeit. Es war Urlaub von Anfang an. Die Arbeit mit der Ferienwohnung und Verpflegung wurde geteilt, auch Annika und Marita halfen mit.
Am späten Vormittag hatte Stella eine Waschmaschine laufen lassen. Nun ging sie wieder in den Keller, um die Wäsche aus der Maschine zu holen und aufzuhängen. Der Himmel hatte sich verdunkelt und es sah so aus, als wolle es jeden Augenblick anfangen zu schütten.
Noch nie in all den Jahren musste sie die gewaschenen Sachen im Haus aufhängen, stets waren sie von der frischen Seeluft getrocknet worden. Auf der Suche nach dem richtigen Raum öffnete Stella die Tür gegenüber der Waschküche. Und schloss sie sofort wieder. Ihr Herz begann zu rasen. Was sie gerade gesehen hatte, das war doch, das war unfassbar, das durfte doch nicht sein, hier doch nicht, überhaupt nicht, nirgendwo.
In den ersten Schrecken mischte sich Neugier. Jedenfalls öffnete Stella die Tür noch einmal, ganz langsam. Nein, sie hatte nicht geträumt. In der Ecke des Raumes befand sich tatsächlich ein Käfig. Gerade als sie sich einreden wollte, dass hier möglicherweise nur ein Hund eingesperrt worden war, fiel ihr Blick daneben auf eine schmale Liege. In Bruchteilen von Sekunden war Stella klar, dass mit den Manschetten daran ein Mensch fixiert werden konnte und wohl auch sollte.
Stella rechnete damit, in dem Schrank an der seitlichen Wand Skalpelle, Beile, Sägen und dergleichen zu finden, und wähnte sich einem möglichen Verbrechen auf der Spur. Bedächtig lauschte sie in den Vorraum und in Richtung der Treppe, von wo nichts zu hören war, und wagte es, von ihrer Neugier weiter getrieben, den Schrank zu öffnen.
Statt der erwarteten Instrumente und Werkzeuge fand sie mehrere Rohrstöcke, eine lederne Augenmaske, Handschellen und verschiedene Ketten und Haken. Stella schluckte und guckte weiter. Was war das? Sie hielt eine Art Lederhalfter mit einem roten Ball in den Händen, schüttelte den Kopf und legte ihn zurück in den Schrank. Zwar war sie auf kein Verbrechen gestoßen, konnte sich aber anhand der Gegenstände einen ganz anderen Reim auf diesen Kellerraum machen. Offensichtlich hatten ihre Vermieter ein besonderes Geheimnis.
Stella rief sich das Paar vor Augen.
Wer von den beiden sich wohl hier auf der Liege fixieren und vom anderen verhauen ließ? Stella spielte beide Varianten in Gedanken durch und schüttelte den Kopf. Sie mochte das nicht glauben. Die beiden waren ein Paar, so gewöhnlich wie Fritz und sie selbst. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Weder von ihren Vermietern noch -
Oder doch?
Je länger Stella sich in dem Raum aufhielt, desto mehr veränderten sich ihre Empfindungen.
Verwirrt schloss sie die Tür und fand den Trockenraum hinter einer anderen.
Nachdem die Wäsche aufgehängt war, ging sie nach oben zurück in die Ferienwohnung, froh noch ein wenig für sich zu sein.
Immer wieder schweifte Stella von dem Roman ab, mit dem sie sich auf das Sofa gekuschelt hatte, während es draußen stürmte und goss.
Natürlich hatte sie gewusst, dass es SM gab, es aber stets nur mit dem Bild von professionellen Dominas in Verbindung gebracht. Nicht mit Paaren, wie sie sie aus ihrem Freundeskreis, der Nachbarschaft oder eben hier auf der Insel kannte.
Aber hatte sie es auch nie in Verbindung mit sich selbst gebracht?
Als junges Mädchen, noch im Vorschulalter, hatte Stella die Geschichte vom schwarzen Mann gerne weitergesponnen, was der mit ihr anstellen würde, wenn sie in seine Fänge geriete. In großen Abständen, manchmal lagen Jahre dazwischen, hatte sie sich später immer wieder an diese frühe Phantasie zurückerinnert, sie aber nie einen Zusammenhang mit einer sexuellen Neigung gesehen. Von dem Kribbeln, das das kleine Mädchen beim Gedanken an den schwarzen Mann verspürt hatte, war bei der erwachsenen Stella nichts mehr zu fühlen gewesen. Den schwarzen Mann, den gab es doch gar nicht.
Aber vorhin im Keller, da hatte es wieder so gekribbelt wie damals. Und als erwachsene Frau konnte Stella dieses Kribbeln sehr gut deuten.
Stella erinnerte sich an einen Museumsbesuch in Rothenburg ob der Tauber, sie musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. In alten Mauern waren Folterinstrumente ausgestellt, die ihr Angst, aber auch wohlige Schauer bereiteten. Der ältere Herr, der die Gruppe durch die Ausstellung führte, blieb vor einem Folterstuhl stehen. Die Sitzfläche und die Rückenlehne waren mit geschnitzten Dornen gespickt, und der Museumsführer fragte: „Möchte einer von Ihnen einmal Platz nehmen?“ Bei dieser Frage hatten sich die wohligen Schauer in Stella verstärkt, und in ihrem noch kindlichen Übermut sagte sie: „Ja, ich!“, und erntete dafür das Gelächter der umher stehenden, überwiegend Erwachsenen.
Die Erinnerung ließ Stella nun selbst lächeln. Auf so einen Stuhl hätte sie sich wirklich nicht setzen wollen. Aber einem Peiniger in irgendeiner Weise ausgeliefert zu sein, war ein Gedanke, der ihren Puls ansteigen ließ.
Da war es wieder, das Kribbeln.
„Neuneinhalb Wochen“. Sie hatte den Film zusammen mit Fritz im Kino gesehen, und sie hatten sich auch über die besondere erotische Beziehung zwischen Elisabeth und John unterhalten. Das heftige Ende der dreimonatigen Liaison verbot es, im Anfang etwas von sich selbst erkennen zu wollen. Außerdem konnte Fritz Mickey Rourke nicht leiden. Das Thema schien damit beendet.
Erst im Rückblick fiel Stella nun auf, wie leidenschaftlich ihr Liebesleben in jener Zeit geworden war.
Konnte da doch mehr im Spiel gewesen sein? Und war von diesem Mehr noch etwas da?
Da war mehr. Vermutlich damals schon und sicherlich heute, wenn Stella ihre Reaktion auf den Kellerraum richtig deutete.
Und Fritz? Wie mochte das mit Fritz sein? Hatte er vielleicht seine Spielkameradinnen gerne verhaftet und verhört? Würde es ihn heute erregen, ihr die Augen zu verbinden und sie zu fesseln? Sie etwas härter heranzunehmen? Stella dachte an die Rohrstöcke. Würde es Fritz vielleicht sogar Spaß machen, sie zu schlagen?
Stella war unruhig geworden. Sie wollte Fritz von ihren Entdeckungen erzählen. Von der Entdeckung des Kellerraums und von der Entdeckung der Spuren in ihrer Vergangenheit, die mit diesem Kellerraum eine ganze Menge zu tun hatten. Und sie hatte Fragen an ihn.
Zunächst herrschte jedoch fröhliches und lautes Familiengetümmel. Fritz und die Mädchen waren von ihrem Ausflug zurückgekommen. Sie hatten eine Schifffahrt rund um die Insel gemacht und sich später, zunächst in einem Eiscafé und später im Haus der Insel, vor dem Regen in Sicherheit gebracht. Wirklich satt waren die drei von dem Eis natürlich nicht geworden und Stella kochte einen großen Topf Nudeln.
Während sie die Tomatensoße zubereitete, überlegte sie, wie ihre Fragen an den Mann zu bringen seien - an ihren Mann. Das Fragen selbst bereitete ihr keine Sorgen, die möglichen Reaktionen und Antworten machten ihr die Entscheidung so schwer. Auch wenn Stella sich es nicht vorstellen konnte: Was wäre, wenn Fritz sich entsetzt abwenden würde? Vielleicht nicht gleich im ersten Moment, sondern erst später. Stella hatte viele Jahre keine Sehnsucht nach SM verspürt. Das heute jäh erwachte Verlangen konnte doch genauso gut wieder einschlummern. Wozu ihre Ehe auf eine möglicherweise harte Probe stellen?
Aber wenn er sich nicht entsetzt abwenden, sondern an dem Gedanken vielleicht sogar Gefallen fände?
Sie wusste es nicht und die Küchenuhr unterbrach ihre Gedanken. Nudeln und Soße waren fertig. Stella bat ihre Lieben an den Esstisch.
Später, der Himmel hatte sich längst aufgeklart, unternahmen Stella und Fritz noch einen Abendspaziergang. Sie durchquerten den kleinen Wald und dann auf dem Bohlenweg die Dünen, bevor sie den breiten Strand erreichten. Der in die Jahre gekommene Hund trottete gemütlich vor ihnen her. Es stand nicht zu befürchten, dass er in seinem Alter noch zu einer Jagd auf eines der zahlreichen Kaninchen ansetzen würde.
Am Strand breiteten sie die alte Zeltplane aus und setzten sich eng nebeneinander. Der Rüde rollte sich zu ihren Füßen ein und sah ein paar Möwen nach. In seinem Blick schien die Erinnerung an frühere Jagdtage zu liegen, bevor er wegdöste und bald, begleitet vom typischen Jiffen, zu träumen begann.
Fritz holte aus seiner ledernen Packtasche eine Flasche Rotwein und zwei Gläser.
Stella betrachtete die noch immer aufgewühlte Nordsee. Sie lehnte sich an ihren Mann, als sei er der Fels in der Brandung, die seit dem Nachmittag in ihr zu toben begonnen hatte. Er war ihr Fels in der Brandung, dachte sie, er war ihre Sicherheit.
„Ich muss Dir etwas erzählen!“, sie prostete Fritz zu und begann mit dem Blick aufs Meer das Gespräch.