Wintersonnenwende. Die kürzeste Nacht im Jahreskreis war für Svenja Anlass, auf die letzten zwölf Monate zurückzublicken. Dass sie dabei gleichzeitig ihrem Traummann in die Augen blicken würde, hätte sie zu Beginn des Jahres sicher nicht erwartet.
21. März. Ausgerüstet mit ihrem Tagesrucksack machte sich Svenja auf den Weg in die Rhön. Frühling? Der Wetterbericht versprach seit Tagen keine Sonne, heute Morgen im Radio war sogar von Regen die Rede gewesen. Nasskaltgrau war es, und während sie den Straßen folgte, kreisten ihre Gedanken noch um die zurückliegende Woche, den Alltag.
Der kostete sie viel Kraft. Ihre Anstellung auf der Direktionsebene einer Privatbank hatte sie als Herausforderung angenommen, die nötige Bereitschaft zu Leistung und zahlreichen Überstunden mitgebracht. Sie war kollegial, hatte jedoch zunehmend den Eindruck, dass es am Ende auf die Frage hinauslief: Fressen oder gefressen werden? Daraus resultierten Zweifel, ob es gut sei, so weiterzumachen, und der Wunsch, sich zu verändern. Über das Jahr, so hatte sie es sich im vorgenommen, würde sie hier eine Entscheidung treffen.
Inzwischen machte sich Svenja eine beinahe meditative Herangehensweise an den Arbeitstag zu eigen. Auf dem Weg ins Büro stelle sie sich ein Wolfsrudel vor. Wie die Tiere sich heulend auf die Jagd einstimmten, um bald danach aufzubrechen. Die Kraft der Grauröcke, die in ihrem ausdauernden Trab zum Ausdruck kam, sprang über auf die Botenstoffe in Svenjas Körper und wurde ihr zu eigen. Sie fühlte sich als Teil des Rudels. Fressen oder gefressen werden? Als sie die Villa betrat, die das Bankhaus beherbergte, war klar, dass sie sich jedenfalls nicht fressen lassen würde.
Vor ihr erhob sich über der Hochebene die Milseburg, eine markante Erhebung, heidnischer Kultplatz in früherer Zeit und sagenumwoben bis heute.
Sie bog auf einen Wanderparkplatz, von dem aus sie mit kräftigen, ausholenden Schritten loslief. Es nieselte und so holte Svenja ihren roten Regenhut aus dem Rucksack und setzte ihn sich auf.
Bald verließ sie den Hauptweg und lief durch den Wald. Sie war auf ihren Touren gerne allein, stets Voraussetzung dafür, ganz bei sich zu sein. Ein schmaler Pfad führte sie auf eine Lichtung. Nicht nur das Fehlen verschattender Bäume, sondern auch die Sonne, die sich nun bemühte, ein Loch in die Wolkendecke zu reißen, ließen es für einen Moment heller werden und Svenja reckte ihr Gesicht dem Himmel entgegen.
Ist er nur eine Traumgestalt, die außer ihr niemand zu sehen vermag oder sind sich die beiden wo und wie auch immer durch einen glücklichen Zufall real begegnet …
Das habe ich bewusst offen ge- und dem Willen/Vertrauen der Leserinnen und Leser überlassen, sich auf mythische und magische Dinge — und sei es nur für die Dauer einer Geschichte — einzulassen.
Wunderschön geschrieben und die Gedankengespinste geradezu en passant nachvollziehbar.
Nur das Ende kam mir zu abrupt und auch zu undurchsichtig. Ist er nur eine Traumgestalt, die außer ihr niemand zu sehen vermag oder sind sich die beiden wo und wie auch immer durch einen glücklichen Zufall real begegnet. Hach, diese Details würden meine romantische Neugier befriedigen...
Du lässt mich ein wenig ratlos zurück: Ja, all die Beschreibungen der Spaziergänge und Träume, das Verweben von Traum und Realität, das ist dir faszinierend gelungen. Aber der Schluss hat mich wie vor den Kopf gestoßen: Was jetzt, wieder nur ein Traum, oder wo kommt der Wanderer plötzlich real in ihr Leben, oder ist sie jetzt reif für den Psychiater? I-III habe ich gerne gelesen, Abschnitt IV, empfinde ich, treibt das "Märchen" fast schon in die Ironie, schade, der hat mir den zu drei Vierteln tollen Text versalzen! Entsprechend drei Sterne!
Liebe Schattenwölfin eine wirklich starke Geschichte, die das wahre Leben mit magischen Momenten verbindet und uns zeigt, welch großen Raum Phantasie in uns einnehmen kann. Dabei hatte ich zu keinem Moment den Gedanken, dass da etwas einem beginnenden Fieber entsprungen sein könnte. Im Gegenteil, wer einmal die Gelegenheit bekommt, einen der großen Grauen in freier Natur zu sehen, wird spüren, was das für ein magischer Moment ist.
Für mich gab es in dieser Geschichte mehr als einen Gänsehautmoment, es war wunderbar, Svenja zu begleiten und mitzuerleben, wie sich Phantasie und Realität vermischen.
Danke für wirklich schöne, zum Teil mystische Zeilen, die mich wirklich begeistert haben.
Ein reicher Mensch ist jemand, der viele Welten hat. Es beginnt bei den Märchenwelten in der Kindheit und wer es schafft, da einzusteigen, mitzufahren im Karussell der Fantasie, der wird das sein ganzes Leben lang tun. Ich denke, unsere solitäre Erde ist für kaum einen Menschen genug. Weshalb lesen wir, schauen Filme? Die Erweiterung unserer Welt ist Kreativität, das Bauen an eigenen Welten, das Aufschließen anderer Ebenen beim Schreiben, Malen, Spielen.
So denke ich und deshalb empfinde ich es als Geschenk, wenn ich Geschichten lese, die über Grenzen springen und unsere Welt mit anderen, fantastischen Welten verbinden.
Eine stark von magischen Vorgängen durchwachsene Geschichte. Sie ist schön geschrieben und spricht mich dadurch an, lässt mich allerdings eher ratlos zurück.