Ob es nun meine Angewohnheit ist, Frauen zu folgen oder nicht, dieser Frau bin ich durch die Stadt bis hierher gefolgt. Dame wäre eigentlich der bessere Begriff, denn sie hat eine damenhafte Ausstrahlung. Von meinem Platz hier im Kaffeehaus aus kann ich sie betrachten und beobachten.
Seit einer Stunde sitze ich hier im Café Griensteidl in der Nähe der Wiener Hofburg und beobachte diese Frau. Das heißt, ich beobachtete sie schon länger. Über eine Stunde bin ich ihr nachgelaufen, um ihr dann in das Kaffeehaus zu folgen. Normalerweise ist es nicht meine Art, Frauen nachzulaufen. Okay, ein paar Schritte einer Frau folgen, um den Anblick eines schönen Hintern zu genießen, das mache ich schon. Aber nie mehr als vielleicht fünf Minuten. Für mich habe ich auch mal festgelegt, dass das moralisch in Ordnung ist, und vor Anderen muss ich mich auch nicht rechtfertigen. Einer Frau wirklich nachlaufen oder sie gar verfolgen, nein, das ist wirklich nicht meine Art. Entweder Ansprechen - na ja, so heldenhaft bin ich dann auch eher selten - oder ich muss damit leben, dass sie aus dem Blickfeld verschwindet und ihre kurze Gegenwart in meinem Leben beendet.
Du kannst Texte nur dann bewerten, wenn du sie voll einsehen kannst.
Kommentare von Leserinnen und Lesern
Gelöscht.
02.10.2023 um 13:16 Uhr
Wie schön beschrieben. Wenn man Wien kennt, tauchen die Örtlichkeiten sehr deutlich vor dem geistigen Auge auf. Und diese Dame - ja, welcher Mann hat nicht schon so empfunden, gesehnt oder gar schon etwas ähnliches erlebt.
Sehr schöne Geschichte, wie ich finde. Mir gefällt die als Stadtführung kaschierte "Vorführung". Dem Begriff
`Stalker` wird hier eine neue Dimension hinzugefügt. Man wird in jedem Satz an den unsichtbare Nasenring erinnert. "Die Frau ist der Fisch, der den Angler fängt." Mark Twain Danke für die gute Unterhaltung
Meister Y hat die Geschichte hervorgeholt, und sie passt ins Frühjahr. Sie hat mir wegen der unaufdringlichen Beobachtung, fast zart, nicht nur gefallen, sondern sie ist auch stimmig konstruiert, wie ich finde.
Der Ich-Erzähler besucht die Stadt, in der er seinerzeit ein Volontariat absolviert hat. Das eröffnet Erinnerungshorizonte; aber noch mehr: Vielleicht auch eine Rückversetzung in ein Alter, als Träume noch wirklich erfüllbar erschienen. Das ganze Leben, nicht nur das Berufsleben, lag vor ihm. Möglicherweise gibt ihm das den Schwung, einer Frau seines Gefallens zu folgen. Aber geblieben ist er: der Volontär von einst. Daneben gibt es noch eine Klammer, die die Geschichte in sich verwebt: Im Locken sind die Rollen von Verfolger und Verfolgter geradezu vertauscht. Er folgt nicht unerkannt, und deshalb zieht sie ihn wie eine Schleppe hinter sich her. Wie schön. Und das gibt der Geschichte am Ende sogar die Richtung, wie es weiter gehen könnte. Man möchte ihm zurufen: Mensch, Junge, steh auf, lass den Volontär endlich hinter Dich. Ein Ort des zweiten Erwachsenwerdens. Eine Mutgeschichte.
Lieber Ophrys, das ist eine österlich passende Geschichte, und ich wünsche ihr noch viele Leser.
Meister Y, vielen Dank für diese schönen Worte. Es ist schön zu sehen, dass jemand die Geschichte gelesen hat, wie ich sie geschrieben und beim Schreiben gefühlt habe. … und ja, Wien ist wunderbar!
Selbst wenn man die einzigartige Atmossphäre Wiener Kaffeehäuser nicht kennt, das besondere Flair dieser Stadt noch nie geniessen durfte, wenn man diese Zeilen gelesen hat, war man genau dort. Eine Geschichte wie ein Gemälde, facettenreich, detailverliebt absolut lesenswert. Schliesst man ab und an die Augen, hat man den Duft von Wiener Melange und Sachertote in der Nase, hört man das Klappern ihrer Absätze, das Flüstern des Satins. Sieht man vor dem inneren Auge genau diese Szene als stiller, wissender Beobachter. Ihn, der mehr möchte als kann. Sie, die die Situation genau zu kontrollieren scheint, sich ihrer Wirkung bewusst ist.
Danke für diese Zeilen, die mich mit nach Wien genommen haben, die ich am Frühstückstisch bei Kaffee und anderem wirklich geniessen konnte.