Valerie muss los. Als Nächstes ist sie dran. Schrecklich nervös, wie gewöhnlich in diesen Momenten, läuft sie auf die Bühne. Das ist schon so, seit sie sich erinnern kann. Das Lampenfieber ist ihr ständiger, finsterer Begleiter bei ihren Auftritten. Jedes Mal muss sie ihn langsam und beharrlich abschütteln. Das gelingt ihr aber erst nach einer gefühlten Ewigkeit auf der Bühne. Quälende Minuten sind das. Unsicherheit, ob alles auch wie geplant abläuft.
Das Licht der Scheinwerfer blendet sie. Das ist gut so, dadurch ist es ihr unmöglich, jemanden im Publikum zu erkennen. Oder annähernd abschätzen zu können, wie viele Leute tatsächlich zu dem Auftritt gekommen sind.
Seit einigen Wochen hat sich so vieles in Valeries Leben verändert. Davon ahnt niemand etwas. Vor allen Dingen nicht das Publikum. Nichts mehr ist wie zuvor.
Die Nervosität lässt ihr keine Ruhe. Quälende Befürchtungen breiten sich in ihr aus. Gewinnen an Raum. Werden immer drängender. Sie atmet ganz bewusst. Versucht, sich zu beruhigen. Ihre Ängste dürfen nicht übermächtig werden. Das muss sie verhindern. Im Keim ersticken. Sie darf sich nicht in Gedanken ausmalen, was alles schieflaufen könnte. Sie muss das Hier und Jetzt vergessen, wie bei ihrer Begegnung mit Ansgar. Sich von der eigenen Stimme treiben lassen. Frei werden. Springen.
Während sie mitten auf der Bühne steht, spürt sie deutlich im Schritt, zwischen ihren Oberschenkeln die Wunden, die das Treffen mit Ansgar verursacht hat. Bereits beim bloßen Gedanken daran wird ihr warm und es kribbelt in ihrem Bauch. Wie tausende Schmetterlinge, die wild herumtanzen. Unterhalb ihres Nabels. Vorsichtig tiefer ziehend. Unaufhaltsam. Unkontrollierbar. Die Striemen stammen von einem langen dünnen Ast eines Weidenbaums. Damit traktierte er sie, schonte sie nicht und war unbarmherzig zu ihr. Auch auf ihrem Rücken und ihren Brüsten sind ähnliche Male zu erkennen. Sie brennen immer noch ein wenig, verborgen unter ihrem roten Kleid. Bilden ein schönes Muster. Zu ihrer tiefen Verwunderung und Bestürzung, gefiel ihr der Anblick. Sie ertappte sich schon dabei, wie sie vor dem Spiegel stolz die Striemen mit den Fingern nachzeichnete. Sorgsam streichelte. Minutenlang. Gedanken verloren. Dadurch hielt sie ihre Erinnerung an das Treffen mit Ansgar lebendig.
Er schenkte ihr von Anfang an reinen Wein ein. Schrieb ihr von seinen sadistischen Neigungen. Immer wieder überlegte sie sich, ob das wirklich das Richtige für sie war und ob sie sich das zutraute. Konnte sie im Schmerz Erfüllung finden? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Aber die Zeit verging und sie schrieben sich mehrmals täglich. Sie freute sich auch über die immer häufiger stattfindenden Telefonate. Liebte seine tiefe Stimme. Auch die Neugier obsiegte in ihr. Unbedingt wollte sie von ihm mehr erfahren. Er versprach ihr, sie zu Beginn zu schonen und ihr einen langsamen, allmählichen Einstieg zu ermöglichen. Nicht gleich aufs Ganze zu gehen.
Valerie wollte endlich den Schritt wagen. Zu lange blendete sie bereits ihre Neigungen aus. Das fühlte sich falsch an. Ansgar war ein einfühlsamer Mann, ruhig, souverän und konservativ wirkte er. Nach außen hin sah man ihm seine Neigungen in keiner Weise an. Das gefiel ihr. Er hatte ein Geheimnis, das er in sich trug, versteckt und verborgen vor der Außenwelt. Es erschien ihr wie eine zweite Welt innerhalb der normalen Realität, in die man eintauchen und versinken konnte. Mit tiefen, dunklen romantischen Sphären. Er lockte und zog sie zu sich. Gedanklich. Emotional. War sie dafür bereit?
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