»Mein Medium Martha wird nun in Ihre Gedanken eindringen und mir vermitteln, was darin vorgeht - bitte konzentrieren Sie sich auf Ihre Würfelzahlen!«
Das Knistern der brennenden Scheite war das einzige Geräusch im Zelt. Das stumme Rund der Zuschauer hielt den Atem an. Wie er es machte, weiß ich auch heute nicht, will es auch nicht wissen, aber er legte vermutlich wie immer eine Hand an die Stirn und sagte sehr langsam, fast wie in Trance:
»Sie haben mit dem roten Würfel die Drei, mit dem weißen die Vier und - ja, mit dem blauen die Eins gewürfelt!«
Der Mann mit dem Tablett auf den Knien hob den Würfelbecher und presste hervor:
»Das stimmt! Es ist völlig richtig! Unglaublich!«
Es war der dritte Versuch mit drei Würfeln, bei diesem letzten durfte der Würfelnde auch noch nach dem Wurf beliebig oft die Würfel verdrehen. Ich konnte die Verblüffung in den Gesichtern ringsum nur ahnen, denn sehen konnte ich durch die schwarze Kapuze mit dichtem Frontschleier nichts. Natürlich war ich kein Medium, empfing nichts, sendete ihm nichts. Er benutzte mich nur als Verstärker der Atmosphäre. Er benutzte mich, ja, das ist das richtige Wort. Allerdings erzeugt dieses eigentlich negative Wort in mir eher ein leichtes Beben. Ich werde benutzt. Ja, das klingt brutal, abstoßend, unglaublich - nein, all dies nicht, es klingt erregend, ergreifend, ja, mich durchdringend, macht mich zittern.
Für die Zuschauer war die folgende Darbietung nochmal eine unglaubliche Steigerung: Er gab einer Dame aus dem Publikum ein Klemmbrett mit Papier und Stift und bat sie, eine kleine, einfache Zeichnung darauf zu entwerfen, sowie den Vornamen einer für sie wichtigen Person dazu zu schreiben. Er nahm ein gleiches Klemmbrett und »empfing« über mich, die ich eher teilnahmslos, die Hände im Schoß gefaltet, auf dem schwarz-rot gepolsterten Stuhl saß, was die Dame zu Papier brachte. Wenn er dann sein Brett neben ihres hielt, zeigte sich, dass er sowohl ihre Zeichnung als auch den Namen korrekt kopiert hatte, obschon er ein paar Meter von ihr entfernt ihr den Rücken zugewandt hatte.
Wie gesagt, er verriet mir seine Geheimnisse nicht, für die ich nur dazusitzen hatte, unbeweglich, die schwarze Kapuze über dem Kopf, und wenn er mir die abzog, hatte ich zu schauen, als würde ich aus einem Traum erwachen, wenn er mit den Fingern schnippte.
Es war dieses Fingerschnippen, das ich liebte, denn es beendete diese Rolle, die ich zu spielen hatte. Nicht, dass ich nicht auch diese Rolle genossen hätte, aber da ich eigentlich nur Staffage für seine Auftritte in diesem Märchenzelt war, die er alle zwei Wochen gab, war das nicht vergleichbar mit meiner eigentlichen Rolle, für die er mir die gleiche Kapuze überzog, im Wohnzimmer, im Auto, im Wald - wo immer er es sich ausgesucht hatte: Meine Rolle als sein absolutes Eigentum in blindem Gehorsam. Er wollte mich, denke ich, zwingen, mich in diesen Momenten der Blindheit ganz auf ihn und seine Stimme zu konzentrieren.
Was für absurde, ungeheuerliche drei Worte: Sein absolutes Eigentum. Wie kann es das geben? Sicher, es gab - und vielleicht gibt es immer noch in dunkleren Ecken unserer Welt - Sklaven, die das Eigentum Ihrer »Besitzer« waren, die sie für sich arbeiten ließen, kauften oder verkauften wie ein Stück Vieh. Aber die waren oder sind immer nur rein körperlich Eigentum ihrer Herrschaft, nie in ihrem freien Wollen. Sowie die Ketten fallen, entfliehen sie in ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben. Davon ist hier nicht die Rede. Hier geht es um Hingabe, um das freiwillige Unterordnen des Ichs unter ein Du, ein Teilwerden, Verschmelzen mit dem Wollen des anderen.
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