Kapitel 1 - Zu spät
Sieben klare Glockenschläge begleiteten ihre hastigen Schritte über das nasse, glitschige Pflaster. Ein flüchtiger Blick zum hell erleuchteten Kirchturm, der zwischen den Dächern zweier Fachwerkhäuser groß und mächtig hervorlugte, ließ ihr einen unangenehmen Extra-Schauer über den Rücken laufen. Scheiße, zu spät! Das wird definitiv zählen, scheiße!
Trotz des herbstlichen Regenwetters eilte sie mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze auf den geschotterten Kirchplatz. Bilder einer Hochzeit bei strahlendem Sonnenschein flackerten ihr durch den Sinn, als sie den Kopf hob. Reflexartig zog sie den Kragen nach oben übers Kinn, damit das dezente, schwarze Halsband auch ja gut versteckt blieb. Tessa, mein Schwesterherz, du miese Verkupplerin; wenn du wüsstest, was ich seit deiner Hochzeit alles getrieben habe... du bist schuld daran und ich liebe dich dafür.
Gefährlich schlitternd bog sie in die schmale Pfarrgasse neben der Kirche ein. Ein Pieksen im rechten Schuh ließ sie straucheln, doch sie biss genervt die Zähne zusammen und rannte weiter. Erst, als sich lästiges Seitenstechen dazugesellte, wurde aus ihren Schritten ein langsameres, unbeholfenes Traben. Japsend stemmte sie schließlich eine Hand in die Hüfte und schleppte sich die letzten Meter bis zu ihrem Ziel. Eineinhalb Kilometer vom Bahnhof bis hierher, das hätte ich schneller schaffen müssen. Ihm wird es vermutlich - ach Quatsch: ganz sicher! - völlig egal sein, dass die Bahn mal wieder Schuld ist; da gibt es nichts schön zu reden, verdammt!
In der Nähe eines schmalen, antik wirkenden Eisentors, das leicht zu übersehen war, kam sie zum Stehen und stützte sich an dem alten Gemäuer ab. Nass und kalt spritzte der Regen von hervorstehenden Ziegeln ab, doch sie kümmerte das kaum. Langsam wieder zu Atem kommend schaute sie die schlecht ausgeleuchtete Gasse hinauf und hinunter; als auch auf den zweiten Blick niemand zu sehen war, näherte sie sich mit mulmigem Gefühl dem Tor. Los jetzt! Wo habe ich nur ...?
Hektisch tastete sie ihre Jackentaschen ab, bis sie einen eisernen Schlüssel aus den Untiefen ihrer Handtasche hervorzauberte. Sie atmete tief durch und entriegelte das Tor, das sich widerspenstig scheppernd für diese Störung bedankte. Nach einem beherzten Stoß gab es nach und schwang quietschend nach innen auf. Hastig huschte sie unter dem schief gemauerten Torbogen hindurch auf die andere Seite.
Als der Riegel hinter ihr zuschnappte, entlud sich der Großteil ihrer Anspannung. Es fühlte sich an, als hätte sie einen nervenaufreibenden Spießrutenlauf hinter sich gebracht und jetzt ... jetzt war sie am lang ersehnten Ziel angekommen. Erleichtert schritt sie vorwärts, wodurch eine LED-Leuchte aufleuchtete, die dem durchnässten, kümmerlichen Vorgarten fahles, weißes Licht spendete.
Zügig näherte sie sich auf verwachsenen Steinplatten der mächtigen, schwarzen Haustür, deren Holzoptik mit Rissen und Abblätterungen zu kämpfen hatte. Seelisch versuchte sie sich auf das vorzubereiten, was sie heute erwarten würde. Verdammt, Pünktlichkeit ist ihm doch wichtig. Bestimmt heckt er bereits eine teuflische Strafe dafür aus; irgendwas, das wehtut, damit ich daraus lerne und er seinen Spaß daran hat. Scheiße, so einfach will ich es ihm nicht machen.
Als sie das kleine, schützende Vordach erreichte, konnte sie sich endlich die klatschnasse Kapuze vom Kopf reißen. Ihr langes, braunes Haar wirbelte ihr frech ins Gesicht, als wollte es seine wiedergewonnene Freiheit feiern. Nach kurzem, intensivem Kampf hatte sie es gebändigt und in Form gebracht, die - so hoffte sie - als angemessen und anständig durchging. Ohne viel Zeit zu verlieren, griff sie nach dem Ring im Maul des Türklopfers, dessen Fratze ein rätselhaftes Mischwesen, halb Teufel und halb Engel, darstellte.
Kaum war ihr dreimaliges Klopfen verklungen, öffnete sich die Tür und sie stolperte aufgeregt über die Schwelle ins Warme. Prompt landete sie in vertrauten, kräftigen Armen, die sie innig in Besitz nahmen. Oh Gott, wie habe ich dich vermisst! Und du konntest es auch kaum erwarten, was? Jetzt bin ich ja da!
Selig vergrub sie ihr Gesicht in herrlich warmen Stoff, der seinen männlich-herben Duft verströmte. Genießerisch sog sie die kuschelige Verbundenheit in sich ein, durch die ihre unruhigen Gedanken zur Seite geschoben wurden.
»Schön, dass du da bist, Ellie«, raunte seine Stimme so sachte über ihr, als wollte er ihren Moment nicht zerstören.
Melde dich bitte an.