Karin möchte klein sein. Sie möchte sich wie eine Katze an seine Wünsche anschmiegen. Aber er wirkt heute so kantig und ihr wird bang um ihre Geschmeidigkeit. Look at Me. Ich bin Dein. Ihre Lippen zucken, aber sie weiß, dass ihr nichts einfallen wird zu sagen, sie kann es nicht einmal für sich in Worte fassen. Dann kommt ihre Droge. Über sie.
Teil 1
1. Karins Dienst
22. Dezember, 21:45 Uhr
Karin lässt sich in den blauen Bürostuhl fallen, aber anstatt sich dem Schreibtisch zuzuwenden oder den Aktenwagen heranzuziehen, beobachtet sie ihren Kollegen, der gerade einen Abschlussbrief tippt. Demonstrativ lässt sie die Arme baumeln und den Kopf nach hinten kippen.
„Welchen haben wir heute?“
„Montag“, antwortet sie genauso geistreich.
„Du kannst bald gehen“, meint er.
„Was ist mit dem Knie?“
„Ist schon auf Ortho.“
An den Tagen vor Weihnachten wird es meist etwas ruhiger.
„Wohin geht es denn dies Jahr?“, hält er das müde Gespräch aufrecht. Sie überlegt, ob es ihn überhaupt interessiert. Ihn erwarten zu Hause unter anderem zwei Gören. Drei oder vier Jahre alt? Oder war das im letzten Jahr?
„In meinem Alter jedenfalls keinen Abenteuerurlaub mehr“, sagt sie endgültiger als beabsichtigt und wendet sich nun doch den Akten zu. Sie hält in ihrer Bewegung auf einmal inne. Da ist es wieder: der abgesprengte Teil ihres Lebens. Sie schließt die Augen und gibt sich einer Phantasie hin. Dann besieht sie sich unbemerkt sein volles Haar. Sie hatten am gleichen Ort studiert, sie aber fünfzehn Jahre früher. Er wirkt schneidig, ehrgeizig, und inzwischen auch besser, und lässt es ihr gegenüber nie heraushängen. Die eine oder andere Eigenschaft wünschte sie sich an ihrem Herrn auch. Karin kneift die Lippen aufeinander.
„Kommt er endlich mal?“, fragt ihr Kollege nun doch in gleichem Stil weiter, immer noch mit dem Rücken zu ihr. Er kann nur ihren Bruder Gernot meinen, schaltet Karin noch rechtzeitig um. Jedes Weihnachten fragt ihr Kollege das. Es ist das Einzige, was er aus ihrem Privatleben weiß. Sie hat es schon mehrfach bereut, ihm vom schwarzen Schaf der Familie erzählt zu haben.
„Ich weiß nicht einmal, wo er sich gerade aufhält und welche tolle Unternehmung er diesmal gerade in den Sand setzt“, stillt sie seine routinierte Neugier.
Hier gibt es nichts mehr zu gewinnen.
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