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Diese Geschichte erreichte den zweiten Platz im Schreibwettbewerb »Blindflug«. (»Schreibwettbewerb: Blindflug«).
Kennen Sie das, wenn man alles und nichts im Kopf hat? Dazwischen perverses Gedankengut, das aufblitzt und vor sich dahindümpelt. Ich habe solche Phasen in den unpassendsten Momenten. Wenn Sie eine intellektuelle, plausible Erklärung dieses Zustands erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Ich habe keine, meine Kindheit war unauffällig.
Nehmen Sie als Beispiel jetzt. Während ich in der überfüllten Straßenbahn sitze, sitzt mir gegenüber ein Mann und isst eine nach warmem Backwerk duftende Topfengolatsche. Hypnotisiert starre ich abwechselnd auf seine Lippen und auf den Boden. Das allein ist nicht pervers, nur aufdringlich. Aber halten Sie durch, dazu komme ich noch.
Sie werden sich fragen: Ja nun, was ist das für eine Einleitung? Wer ist diese Person? Ich bin eine durchschnittliche Frau, in jeglicher Hinsicht. Sie würden sich nicht nach mir umdrehen. Selbst mein Gewicht ist durchschnittlich, also leicht übergewichtig. Jetzt nicht so auffällig, sonst würde ich auffallen. Das graue Kostüm passt zu mir, außer dass der Rock im Bund nicht mehr passt und ich deshalb einen Knopf offengelassen habe, schön kaschiert durch meine geschlossene Jacke. Rein optisch sehe ich streng aus. Das ist so eine Sache mit Äußerlichkeiten - es bedeutet wenig. Der zu enge Rock ist unbequem, deshalb werde ich ab heute Intervallfasten. Da liege ich ganz im Trend. Das heißt, ich habe nichts gefrühstückt und darf erst zu Mittag wieder essen. Seit ich aufgewacht bin, denke ich an nichts anderes als an essen. Meine letzte und bis dahin einzige Diät vor etwa elf Jahren war ein Desaster und gleichzeitiger Rekord, denn sie ging als kürzeste Diät aller Zeiten in die Annalen ein. Dabei hatte ich die besten Absichten und bereitete mich gründlich darauf vor. Ich kaufte ein Buch über die Entgiftung des Darms samt Ausführungen über Schüssler Salze, las zwei Seiten des Buches, biss in die trockene Semmel, kaute vorschriftsmäßig hundertmal, nahm Milch dazu und das Wunder der Vermehrung geschah. Die Semmel wurde in meinem Mund immer mehr, statt weniger. Grauenhaft! Daraufhin wandelte ich die Diät kurzerhand um, indem ich aus dem alten Gebäck Semmelknödel machte. Die Knödel alleine waren so alleine, deshalb gesellten sich ein Schweinebraten und Krautsalat dazu. Sie merken, meine Heimat liegt im Alpenraum, ich koche gerne und bin nicht sehr konsequent. Ab und zu versuche ich, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Jetzt nicht wegen meiner Nationalität, wäre ja dämlich, auch nicht wegen dem Kochen. Ich habe zum Beispiel vor einem halben Jahr einen Jahresvertrag im Fitnessstudio abgeschlossen. Die einzige Motivation, die ich diesbezüglich noch habe, ist, den Vertrag rechtzeitig zu kündigen.
Jetzt verstehen Sie, weshalb ich dem Mann gegenüber am liebsten sein Frühstück aus der Hand reißen würde. Doch es sind die Brösel, die zu seinen Füßen liegen, die mich ganz unruhig machen. Ich rutsche auf meinem Platz hin und her. Mir ist heiß. Ich mag es nicht, aufzufallen, es ist mir unangenehm.
Alleine die Vorstellung, wie mich der Mann auffordert, in meinem biederen Kostüm in der vollen Straßenbahn vor ihm zu kauern und die Brösel vom schmutzigen Boden aufzulecken - mit meinem Reinlichkeitstick sowieso denkunmöglich! Er würde mich ermahnen, gründlich zu sein, ja nichts auszulassen, ansonsten würde er mich bestrafen. Seine Hand in meinem Nacken, die mich niederdrückt. Gott, ich würde mich so schämen, alle Anwesenden schauten zu. Manche wären aufgegeilt, würden uns anfeuern, andere schockiert nach der Sitten- oder Salmonellenpolizei rufen und das Wichtigste: Ich würde einen großen Brösel liegen lassen.
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