Ich stehe im Bad vor dem Spiegel und schminke mich für dich, genauso wie du es am liebsten magst. Viel bedarf es nicht, denn du findest meine Natürlichkeit schön. Ich lege trotzdem etwas Lippenstift auf. Ob ich dich heute wohl küssen werde? Zu lang ist der letzte Kuss her, damals noch war es, bevor alles anders wurde, fünf Monate sind seither vergangen.
Mein Outfit habe ich auch schon ausgesucht, es hängt auf dem Bügel außen am Schlafzimmerschrank, gleich neben der Tür mit dem Spiegel dran. Dieses Kleid von damals, als wir uns das erste Mal trafen, habe ich gewählt, obwohl es jetzt eigentlich etwas zu kalt ist dafür. Aber das macht mir nichts aus, denn ich fahre mit dem Auto und möchte dich so gern überraschen. Ob du das Kleid erkennen wirst?
Im Sommer vor 2 Jahren trafen wir uns. Eine Sache, über die wir immer im Scherz stritten, war, wer wen zuerst entdeckte. Aber letztlich hatten wir beide uns gefunden. Unten am See warst du entlanggejoggt, während ich mich auf einer Bank sonnte. Sonnen ist der falsche Ausdruck, ich saß da und hielt mein Gesicht der Wärme entgegen. Leider hatte ich nur eine kleine Wohnung ohne Balkon. Deshalb fuhr ich gern mit dem Fahrrad zum See bis ganz nach hinten, da dort weniger Fußgänger anzutreffen waren. Manchmal las ich auf dieser Bank oder hörte Musik, und genau hier begegneten wir uns. Ich nahm dich schon von Weitem wahr, wie du den Weg entlanggejoggt kamst, aber richtete meine Aufmerksamkeit immer wieder ins Buch, denn beobachten wollte ich dich eigentlich nicht. Du jedoch musstest mich die ganze Zeit schon gemustert haben und rein zufällig bliebst du dann auch vier Meter von mir entfernt für eine kleine Verschnaufpause stehen. In diesem Moment fühlte ich mich beobachtet und schaute von meinem Buch hoch. Mein Blick blieb direkt in deinen Augen hängen, aber du standst tatsächlich nur da und mustertest mich unverfroren von oben bis unten. Gern hätte ich dir die Meinung gesagt, dass sich das nicht gehört, und du das unterlassen sollst. Zumal du auch viel älter warst als ich, du konntest glatt mein Vater sein. Aber lediglich angegrinst hattest du mich und eigentlich genoss ich es in diesem Moment, wie du mich anschautest und damit bereits nervös machtest. Auch über die zwei Jahre hinweg, in welchen wir zusammen waren, war es immer wieder dein Blick, der mich alles vergessen ließ, der ausreichte, um deinen Willen durchzusetzen, und dass ich dir ergeben sein wollte.
Ich schaue auf die Uhr von meinem Handy. Es ist noch Zeit. Eigentlich bin ich zu früh dran, mich fertig zu machen. Aber ich freue mich, dass ich dich besuchen kann und bin aufgeregt wie ein Kind. Genau wie damals, als wir das erste offizielle Date hatten. Du wolltest mit mir Eis essen, weil du meintest, ein kleines süßes Mädchen wie ich, isst sicherlich gern ein Eis und du würdest den besten Eisladen der Stadt kennen. Ja, ich mochte Eis, weil wohl jeder gern Eis isst. Aber wie du es damals so sagtest und mir dabei mit der Hand über die Wange streicheltest, während dein Kopf meinem so nah war, dass sich deine Nase in meinen Haaren vergrub, und ich hörte, wie du die Luft förmlich einsogst, da war ich doch gern dein kleines Mädchen. Ohne Widerstand. Da wurden meine Knie ganz weich und ich wollte einfach nur, dass du mich im Arm hältst, mich beschützt und mir sagst, was gut und richtig ist.
Ich war Anfang 20 und hatte mein Leben gut im Griff, wenngleich das Geld oft knapp war, was sich aber nach Abschluss meiner Ausbildung begann zu ändern. Du hingegen warst Mitte 50 und lebenserfahren, hattest zu jedem Problem eine Lösung und auf jede Frage eine Antwort. Ein bisschen warst du wohl tatsächlich eine Vaterfigur, aber da war auch noch mehr. Denn ich sah zu dir auf. Nein, nicht wegen der Körpergröße, obwohl du mich um einen Kopf überragtest. Ich sah zu dir auf, was mein Gefühl betraf, genoss deine liebevolle, beschützende und tonangebende Art. Und das machte mich glücklich.
Eine Nachricht von Enrico auf meinem Handy, er wünscht mir nachher viel Spaß und schreibt, ich kann mich später melden, wenn ich Redebedarf habe und ihn noch sehen will. Ich freue mich darüber, dass er sich extra noch meldet, bevor ich mich auf den Weg mache, und sende ihm ein Danke und einen Kuss-Smiley. Enrico ist mein neuer Freund seit drei Wochen und auch mein neuer Dom. Wir hatten erst zwei Sessions und das schlechte Gewissen war dabei präsent, weil ich dich so hintergehe. Aber Enrico und ich redeten viel, davor und auch danach, und wahrscheinlich ist es doch ok so und eigentlich kein Betrug. Aktuell fühlt es sich dennoch so an, da ich dich das erste Mal besuche, nachdem sich alles geändert hat, denn ich konnte dir von Enrico bislang nicht erzählen und weiß auch nicht, ob ich es heute tun werde. Ist es vielleicht besser, wenn du von ihm nichts weißt?
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