Er will sie zeichnen. Von Anfang an. Hartnäckig besteht er darauf. Doch sie fühlt sich bei dem Gedanken nicht wohl. Fürchtet sie, er könnte nicht nur ihren Körper zeichnen, sondern womöglich ihre Seele bloßlegen? Oder andere Abgründe?
Ich fand das abgeschmackt. Das hatte für mein Empfinden etwas von ›Briefmarkensammlung zeigen‹. Ich erklärte ihm, dass ich mich alles andere als pittoresk fühlte. Er hielt dagegen, er sähe in mir eine Grazie, die ich selbst offensichtlich nicht wahrhaben wolle. Grazie. Ich und Grazie! Klar: Mit meinen 175 cm und satten 80 Kilo hätte ich ihm wohl eher abgenommen, dass er die verborgene Walküre als die Elfe in mir entdeckte. Er entkräftete meine sarkastischen Bemerkungen, indem er seine Hand auf die Rundung meiner Hüfte legte und meinen Widerspruch stummküsste.
Immer wieder fing er damit an. Lass mich dich zeichnen!
Halb hoffte, halb fürchtete ich, dass er davon geheilt sein würde, nachdem er mich zum ersten Mal nackt gesehen hatte. Doch nein, die Frequenz seiner Gesuche erhöhte sich nach unserem ersten Sex sogar! Ich hatte den Eindruck, dass er mich nur noch mehr umschwärmte. Ständig zauberte er in passenden und unpassenden Augenblicken seinen Skizzenblock hervor und wedelte damit vor meiner Nase herum.
Anfangs war ich selig - noch nie hatte mich ein Mann spüren lassen, dass er mich physisch so anziehend fand. Doch nach und nach musste ich feststellen, dass nach dem Sex oft ein schales Gefühl zurückblieb. Eine schwer zu fassende Leere, als hätte ich irgendetwas verpasst. Manchmal schien mir, als befände er sich gar nicht in seinem Körper, während er - rein technisch gesehen makellos - mit mir zugange war. Oft brachte er mich zum Höhepunkt, doch fühlte sich das wie ein unverdientes Zugeständnis an.
Es machte mir ein schlechtes Gewissen, für das ich keine Erklärung fand; schließlich kam doch auch er auf seine Kosten! Oder etwa nicht? Die meiste Zeit über hielt er die Augen geschlossen. Einmal kam mir der Vergleich mit dem Agenten eines Sondereinsatzkommandos, der über den Knopf im Ohr unauffällig Befehle aus seiner Zentrale entgegennimmt. Tatsächlich bewegten sich auch manchmal seine Lippen, als gäbe er unhörbare Antwort. ›Headquarters hier. Hier Headquarters, Sergeant X, halten Sie weiterhin engen Kontakt mit der Zielperson und sorgen Sie dafür, dass sie keinen Verdacht schöpft. Haben Sie verstanden, Sergeant X? Over.‹ - ›Aye Sir, Sergeant X hier. Ich stehe in diesem Augenblick in engstem Kontakt mit der Zielperson. Sie ist ahnungslos, Sir. Over and out ...‹ Ich hatte Mühe, bei dieser Vorstellung nicht loszuprusten.
Bevor wir zusammengekommen waren, hatte ich Oliver als maskulin, ja geradezu machohaft erlebt. Eine Eigenschaft, die mich bei einem bildenden Künstler, dem das Klischee eher Sanftmut und Introvertiertheit abforderte, überraschte. Mit der Zeit lernte ich allerdings, seine Vielschichtigkeit zu schätzen. Er hatte nämlich durchaus eine weiche, sensible Seite, trat aber in den richtigen Momenten als ›echter Kerl‹ auf. Selbstsicher und klar. Das füllte mich mit einem heimlichen Triumphgefühl, denn bisher hatten sich die Männer in meinem Leben früher oder später als - milde gesagt - entscheidungsschwache Softies herauskristallisiert.
Oliver ließ nicht locker. Er brachte vor, dass seine Bilder mir doch laut eigener Aussage gefielen! Dass ich seine Aquarelle mochte, vor allem aber seine erotischen Zeichnungen. Ja, schon ... Aber es ist etwas anderes, Kunst zu besehen und zu genießen, als ein Objekt derselben zu werden. Und falls ich irgendwann einmal so weit sein sollte, mich von ihm zeichnen zu lassen - was ich für ziemlich unwahrscheinlich hielt - dann käme das Bild ganz bestimmt nicht in seine Erotik-Mappe!
Und er nervte weiter. Na gut, sagte ich schließlich. Es war in unserem ersten gemeinsamen Urlaub: Okay. Tu es! Zeichne mich!
Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Die halbherzige Entrüstung kommt recht glaubhaft rüber. Die zu erahnende Missionierung erfolgt, gemäß einer Kurzgeschichte, ziemlich schnell und erfolgreich. Nicht nur Märchen gehen gut aus! Danke für Unterhaltung.
Erst musste ich so lachen, als die Protagonistin ihr Portrait, das sie überhaupt nicht ansprechend fand, entdeckt hatte und detailliert beschrieb. Man konnte sich so in sie hineinversetzen. Wunderbar. Spürte den Ärger und die Scham, die darauf folgten und wie sich im Anschluss das Ganze langsam in Erregung verwandelte. Tolles Kopfkino, vielen Dank dafür.
Fein, Rene. Verhalten, hast du dir Zeit gelassen beim Schreiben. Scheinbar ein Stilleben, doch wirkt deine Geschichte nicht bremsbar. Sie zieht mit verdeckter Kraft vorwärts. Unaufhaltsam, ist dabei fast sezierend und sehr klar.
Ich mach ein Bild. Deine Geschichte wirkt so, als würde jemand ganz langsam eine Decke wegziehen. Auf das Papier gebrachte Schreibdisziplin.
Was für ein schöner Kommentar! Beinahe schon eine Geschichte für sich...
Ja, das Schöne ist ja, dass wir als Schreiber/Leser manchmal klüger sind als die Protagonisten - und trotzdem bis zuletzt die eine oder andere Frage offen bleiben kann...
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich während des Lesens einmal geatmet habe. Schnörkellos und dennoch beeindruckend plastisch geschrieben. Gefällt mir sehr gut. Danke
Der Künstler, der hinter die Maske schaut, von deren Vorhandensein man selbst nichts ahnt. Wo scheinbare Sicherheit nur durch leises Unwohlsein ein bisschen aus dem Tritt gebracht wird.
Was für ein Schock, diesen Spiegel vorgehalten zu bekommen.
Natürlich war mir von Anfang an klar, dass es ihm nicht um das Portrait an sich ging, sondern dieses ein Mittel zum Zweck ist. Man weiß es ja immer irgendwie, sonst wäre man nicht hier. Frau auch nicht.
Und hält dann doch die Luft an, ob das Wagnis gelingt, ob der Spiegel zerspringt oder heil bleibt und das Bild der Realität zur Ausschmückung zurück gibt. Und atmet am Ende auf.