Wenn die Protagonistin erst im vorletzten Absatz einen Namen bekommt, sagt das viel über den Ich-Erzähler im Text. Aber der Reihe nach.
In der Anlage ist es ein „gereifter“ Text. Ein Erinnerungstext setzt voraus, dass die Jetzt-Zeit bereits weit fortgeschritten ist. Der Mario ist kein junger Mann mehr. Die Zeit der Flausen ist vorbei. Das Unabänderliche drückt wie ein rollender Stein bereits in den Rücken. Die Sicht im Text ist von Melancholie getragen. Diese kann süß oder ätzend sein. Ziel des Alterns kann sein, Frieden zu schließen. Vor allem mit sich und allen, die man geliebt hat. Mario ist noch voller Zorn.
Das Meer ist eine geeignete Projektionsfläche. Wundervolle Beschreibungen davon finden sich im Text. Ja, das Meer liebt niemanden. Vor allem die nicht, die mit sich hadern.
Der Text rast durch die Philosophiegeschichte. Epikur ist Mario aber entgangen.
Eine Liebesgeschichte:
Da treffen sich zwei, die sich in ihren Persönlichkeiten ergänzen. Ergänzen heißt aber nicht unbedingt harmonieren. Es funktioniert. Eine Zeit lang.
Mario liebt die Sicherheit (gibt sie ja auch), das Ritual, die Wiederholung, das Berechenbare. Es ist seine Art, der Lebensangst zu entkommen. Annett ist anders: Sie flüchtet nach vorn. Wenn zwei das Gleiche tun (z.B. SM), ist es noch lange nicht Dasselbe.
Das Trennende bleibt, so empfindet er es. Er meint Zuschauer zu sein, bekommt es sogar „vorgeworfen“. Während sie Staub aufwirbelt, wie er ihr vorwirft.
Anfangs dachte ich: Wozu den BDSM in der Geschichte? Wirkt das künstlich eingefügt?
Nein, überhaupt nicht. Für beide Mitspieler ist er jeweils passend. Auf verschiedene Art jedoch.
Ich liebe BDSM-Geschichten, die über Sex hinausgehen, und in denen BDSM als Chiffre oder Lebensbewältigung überhaupt steht. Das kann er nämlich sein. Nicht als „Neigung“, sexuelle Spielart, sondern Lebenskunst. Eine etwas verquere, zugegeben, aber um Haltungsnoten geht es nicht, nur ums Überstehen.
Mario tut mir etwas leid, weil er sich selbst und vor allem Annett Unrecht tut. Er will nicht akzeptieren, obwohl er es selbst ausspricht: Es ist da, das ist alles. Was er übersieht, ist, dass er in seinem Gram etwas Einmaliges zerstört. Die Gemeinsamkeit, die war, und bleibt. Er sieht es am Ende als Silhouette der Frau. Aber so sind wir halt manchmal: Wir sehen es und begreifen es noch nicht. Das Vergängliche ist nur auszuhalten, indem man die Einmaligkeit darin begreift. Und daraus kommt Lebenslust.
Ein wunderschöner Text von Dir, Söldner. Ich bräuchte die vielen Worte gar nicht, könnte es einfach auf einen Nenner bringen mit: Der Text „atmet“. Wie ein lebendiger Organismus.