»Alice? Wo bist du?«
Alice streicht seelenruhig die Wand weiter. Würde sie auf jedes »Alice?« sofort reagieren, wären sie in drei Jahren noch nicht fertig.
»Alice?«
Erneut ertönt der suchende Ruf und sie hört, wie Tim die alte, knarzende Treppe in den ersten Stock heraufkommt. Gleich wird er sie gefunden haben.
»Ah, hier bist du! Du musst unbedingt mitkommen!«
Alice verdreht heimlich die Augen und lässt den Farbroller gleichmäßig die Wand hoch und hinab gleiten. »Was hast du denn dieses Mal entdeckt? Einen Kochtopf aus Kupfer? Ein Waschbrett? Vergilbte Vorhänge aus Samt?« Die alte Villa barg ungezählte Schätze und Tim begegnete jedem Fund mit kindlicher Freude.
»Nein, viel besser. Komm mit in den Keller! Und wo ist die Taschenlampe?«
Seufzend legt Alice den Farbroller über den Eimer, wischt sich den Schweiß von der Stirn und wendet sich Tim zu. »Na gut, wenn es sein muss.«
»Glaube mir, dieses Mal wirst auch du begeistert sein! Ich habe es auch noch nicht geöffnet. Ich dachte, das sollten wir gemeinsam erkunden.«
Alice runzelt die Stirn. »Was hast du noch nicht geöffnet?«
Tim kramt in der neben der Treppe stehenden Werkzeugkiste, bis er die Taschenlampe gefunden hat. Er schaltet sie an und wieder aus und lächelt zufrieden. »Folge mir und wundere dich!«
Ergeben steigt sie hinter ihm die Treppe hinab und vermeidet dabei, einen Blick in den danebenliegenden Ballsaal im Erdgeschoss zu werfen. Der Raum, der ihr ob seiner schieren Größe schlaflose Nächte bereitet und sie oft an der Richtigkeit ihrer Entscheidung zweifeln lässt. Wie sollen sie diesen riesigen Saal renoviert bekommen? Wie soll es darin im Winter warm werden, ohne sie finanziell zu ruinieren? Was sollen sie überhaupt mit einem Ballsaal anfangen? Doch lieber in kleinere Zimmer mit viel zu hohen Decken aufteilen? Sie hatten einstweilen beschlossen, dieses Problem außen vorzulassen und sich auf die übrigen Räume der Villa zu beschränken. Man könnte es Verdrängung nennen, Alice bezeichnete es als eine Überlebensstrategie, um nicht verrückt zu werden. Tim und sie hatten sich mit dem Kauf der Villa einen Traum erfüllt. Sie hatten gewusst, dass es schwierig werden würde, aber manchmal war es einfach zu problematisch.
Sie folgt Tim zum Abgang in den Keller. In dem ehemals herrschaftlichen Haus liegt diese Treppe nicht unterhalb der mondänen Stufen in den ersten Stock, sondern abseits in einem Wirtschaftsraum neben dem Speisezimmer. Die engen Stufen führen direkt in die im Untergeschoss angesiedelte Küche. Früher war das praktisch. Mangels Köchin und Dienstmädchen würde die Küche in Kürze nach oben ziehen. Sobald Zeit und Geld dazu vorhanden sind. Doch jedes Mal, wenn Alice in die alte Küche kommt, vermeint sie, den Geruch ungezählter Braten und Kuchen zu riechen, die hier unten produziert wurden.
»Komm, wir müssen dort hinten hin, in einen der Lagerräume«, fordert Tim sie auf. Er knipst mit einem altertümlichen Drehschalter die spärliche Beleuchtung ein, die einen kleinen Flur in den rückwärtigen Teil des Kellers sichtbar werden lässt. Ungeduldig wartet er, dass Alice ihm folgt.
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