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Platz 1 im »Schreibwettbewerb: Missverständnis«.
Beim Frühstück klappte er wie gewohnt den Laptop auf und tippte auf das Icon seines Browsers. Schnell poppte die Startseite hoch mit all den Werbeanzeigen unter der Eingabeleiste. Als er schon »www.t-online.de« getippt hatte, um zu seinen Emails zu gelangen, fiel sein Augenmerk auf eine kleinere Anzeige am rechten Bildschirmrand, die ihn regelrecht anzuspringen schien.
»Du bringst mir, was dich treibt, und triffst auf mein Verständnis.« So hieß es da. Und: »Du bleibst natürlich anonym. Du erhältst meine Anweisungen, und wenn du klug bist, wirst du sie befolgen. Und ich wette, du wirst zu weiteren Behandlungen kommen, denn niemand wird dir so geben, was du brauchst, wie ich! Ich werde dein Inneres nach außen stülpen und dir aufzeigen, worin deine wahre Bestimmung im Leben liegt!«
Darüber das Portrait einer ernst schauenden, elegant gekleideten knapp vierzigjährigen Frau mit schulterlangem, schwarzem Haar. Die Überschrift lautete: »Madame Sybille - ich weiß es!« Eine Mobilfunknummer.
Die dunklen Pupillen schienen ihn zu fixieren.
Es folgten unten noch einige Worte in kleinerer Schrift, von denen seine Augen aber weggesogen wurden zu dem Foto, von dem Blick, diesem fragenden, wissenden, befehlenden Blick.
In der U-Bahn zog er sein Smartphone aus der Tasche und tippte zielgerichtet darauf herum. Schließlich fand er sie wieder: »Du bringst mir, was dich treibt ...«
Da war ihr Bild wieder. Selbst im kleineren Format des Handys verfolgten ihn die dunklen Augen. Er zoomte. Meine Güte, jetzt habe ich es getan, dachte er, was kommt jetzt?
Er hatte lange gezögert. Natürlich war beim Betrachten des Fotos sofort vieles hochgekommen, seine jahrelangen Sehnsüchte, seine wilden Fantasien, seine Erregung, das Teil, das sein Geschlecht definierte. Sein Mund war ausgetrocknet gewesen. Mehrmals hatte er sein Smartphone in die Hand genommen, wieder weggelegt. Versucht, sich mit anderen Dingen abzulenken. Google, Youtube. Ein Spiel begonnen, abgebrochen. War wieder darauf zurückgekommen. Hatte beschlossen, erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen. Aber dann hatte er doch gleich angerufen. Das Herz in seinem Hals hatte um so vieles schneller geklopft als die Klingelzeichen im Telefon kamen. Besetzt! Kurzes Aufatmen. Sollte er wirklich? Die Tür, durch die er hier eintreten wollte, war lauernd, drohte mit einem Eintritt ohne Zurück. Noch konnte er sie auch nicht öffnen, konnte - konnte er wirklich? Fast ohne sein Wollen hatte sein Finger die Wiederholtaste getippt.
»Hallo?« hatte sich eine sehr sympathisch klingende Frauenstimme gemeldet. Seine Hand hatte gezittert, als er das Handy ans Ohr gepresst hatte.
»Na, wer ist denn da bitte?«
»Ja, also hier, hier ist Jürgen.«
»Fein, Jürgen. Du klingst noch sehr jung?«
»Zwanzig.«
»Aha, und wann bist du das geworden?«
»Vor vier Monaten.«
»Sehr schön, Jürgen, und nun möchtest du zu mir kommen?«
»Also ich habe Ihre Anzeige - im Internet ...«
»Prima, Jürgen. Ich merke schon, es treibt dich etwas, eine innere Kraft, die du nicht beherrschen kannst - richtig?«
»Ja, ich meine, ja, das stimmt irgendwie, Miss ...«
»Ich bin Madame Sybille. Nenn mich einfach Madame.«
»Gerne, Madame. Selbstverständlich!«
»Du scheinst ein wenig schüchtern zu sein, Jürgen?«
»Nun, ich, äh ...«
»Dein Sternbild ist Fische, oder?«
»Ja, tatsächlich, woher - «
»Du kommst mir so sensibel vor. Wann hättest du denn Zeit, mich zu besuchen, Jürgen?«
»Ich, also es sind ja gerade Semesterferien, da habe ich eigentlich fast immer ...«
»Sehr schön, Jürgen. Warum kommst du dann nicht gleich heute? Sagen wir um vier Uhr?«
Er hatte seine Halsschlagadern gespürt, den rasenden Puls.
»Gleich heute? Wenn, also wenn Sie meinen, Madame?«
»Ich meine. Hör zu: Du kommst in mein Studio in der Gartenstraße 100 in Haar. Du weißt doch, wo Haar ist?«
»Ja, Madame, in etwa, Osten, da gleich nach Riem wo. Da ist doch die Klapsmü - Entschuldigung, das Bezirkskrankenhaus?«
»Clever, Jürgen!«, hatte sie kurz gelacht, »Aber komm erst mal zu mir! Du nimmst die S4. Von der Haltestelle sind es nur knapp fünf Minuten Weg. Sieh es dir auf dem Stadtplan an! Gartenstraße 100, du findest das?«
Er hätte es gefunden, selbst wenn es auf dem Mond gewesen wäre. Da war ein Magnet, der ihn zog, ein Kompass, dessen Nadel nur in die eine Richtung zeigte. Und so saß er nun in der U3 zum Marienplatz und fuhr seinen Fantasien entgegen.
Du bringst mir, was dich treibt ...
Bonner Platz, kam die Durchsage.
Erst? Mann, die U-Bahn fuhr doch sonst nicht so langsam! Wie würde sie ihn empfangen? Wie würde sie aussehen? Seidenbluse und geschlitzter Lederrock? Overknees? Oder langes, rotes Samtkleid? Handschuhe bis über die Ellenbogen? Highheels natürlich, Bleistiftabsätze. Egal, riss er sich zurück, sie muss nicht deine Traumbilder darstellen, du hast eine Herrin zu akzeptieren, wie sie ist, selbst wenn sie dir erst mal in Jeans die Tür aufmacht. Obwohl, geil wäre es schon, wenn.
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