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() Platz 1 im »Schreibwettbewerb: Heiß und gefährlich«.
Das Amüsierviertel von Gokugakure war nach Einbruch der Nacht wie jedes andere im Japan des Jahres 1538 - bunt, laut und voller Leben. Lampions vertrieben die Dunkelheit und von den Balkonen riefen und winkten die Kurtisanen, um wohlhabende Samurai und feierwillige Kaufleute anzulocken. Schausteller nutzten Rasseln und Trommeln, um auf sich aufmerksam zu machen und die fliegenden Händler setzten auf einfaches Geschrei.
Die Seitengassen hingegen waren leer und schmucklos, lagen schlammig zwischen den aufgestapelten Vorräten der Wirtshäuser. Eine passende Kulisse für die grimmige Tragödie, die sich gerade in einer davon abspielte. Ein abgehalfterter Samurai in einem fleckigen, billigen Kurzkimono hatte einen dürren, ärmlich gekleideten Jungen gepackt.
»Wolltest mich wohl beklauen, du kleine Ratte!«, röhrte er, die Stimme rau vom vielen Sake.
»Bitte, nein!«, jammerte die kleine Gestalt. »Herr, Gnade. Meine Mutter ist krank und meine Schwestern hungern!«
Der aufgebrachte Krieger schüttelte seinen Gefangenen und verdrehte dessen Arm, als wolle er ihn abreißen. »Ha! Dann verkauf doch deine Schwestern! In den Bordellen hier gibt es gutes Geld für sie!«, höhnte er.
»Herr, ich flehe euch an, lasst mich los, ihr brecht mir noch den Arm! Wer soll sich dann um meine Mutter kümmern, meine Schwestern, bitte!«, wimmerte der Junge und sein bleiches Gesicht verzog sich, als er mit den Tränen kämpfte.
»Was sagst du?!«, grunzte der Samurai. »Gnade soll ich dir gewähren? Einem gemeinen, kleinen Dieb?!« Die ganze von Falten zerfurchte Partie um seine Augen und den Mund wurde rot. Er sah aus, als hätte er eine Dämonenmaske aufgesetzt, so außer sich war er vor Zorn. »Ich breche dir jeden Knochen im Leib, jawohl! Ich ...« Er hielt inne und drehte den Kopf in Richtung Fluss, der am Ende der Gasse träge durch sein Bett floss. »Oh ja!«, rief er. »Ich werde dich ersäufen wie eine Ratte! Denn das bist du, ein Ärgernis, ein Schmarotzer, eine Ratte!« Und so begann er den armen Jungen in Richtung Wasser zu schleifen. Der wehrte sich zwar nach Kräften, doch gegen die große, kampferprobte Gestalt hatte er nicht den Hauch einer Chance.
Der Samurai, nun böse grinsend, hatte kaum die Hälfte seines Weges zurückgelegt, da erreichte ihn von hinten ein dünner Ruf: »Bitte, gnädiger Herr, hochverehrter Samurai, lasst den Jungen gehen.«
Der Mann hob verwundert seine buschigen Augenbrauen und drehte sich um. Aus einer Seitentür des nächsten Amüsierhauses war eine junge Frau herausgetreten. Sie schien ihm, wenn überhaupt möglich, noch erbärmlicher zu sein als der Junge in seinen Händen. Das schwarze Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Jeder Zentimeter ihrer Haut war mit Ruß und Schmutz bedeckt und die dreckigen Lumpen, die sie trug, waren so zerschlissen, dass sie kaum noch als Kleidung taugten.
»Bitte, ich biete euch einen frischen Krug Sake an, wenn ihr das arme Geschöpf gehen lasst«, sagte sie mit leiser, belegter Stimme. Sie näherte sich ein paar Schritte und die Lippen des Samurai kräuselten sich vor Abscheu. Das schmutzige Ding humpelte, ja kroch mehr, als zu laufen. Sie war ein elender Krüppel! Wahrscheinlich hatte man sie aus Mitleid von der Straße geholt. Sie durfte die niedrigsten Arbeiten verrichten und wurde mit Fußtritten und Küchenabfällen entlohnt. Ihm war das zuwider. Solche Abscheulichkeiten sollte man gleich ersäufen, statt mit ihnen die Aussicht respektabler Bürger zu verschandeln, fand er.
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