Fünf Minuten vor fünf. Unverzüglich auf ihr Klingeln hin ertönte der Summer und die Haustür ließ sich aufdrücken. Tanja eilte die Treppe hinauf, so gut das mit dem langen Mantel und dem großen Jutesack über der Schulter möglich war. Auf dem Absatz im dritten Stockwerk blieb sie stehen.
Fünf Minuten nach fünf. Wiederholt hatte Tanja mit ihrem Zeigefinger auf den messingfarbenen Klingelknopf gedrückt.
Nichts.
Nervös trat sie von einem Bein auf das andere, sodass die Dielen knarrten.
Klingeln. Warten. Klingeln.
Nichts.
Sie war doch richtig? Tiefenstein stand in schwungvoller Schrift auf dem Namensschild.
Mühsam fummelte sie sich durch den Mantel zu ihrer Jeans durch und grabbelte den Zettel mit den Anschriften und ihren dazugehörenden Notizen heraus.
Tiefenstein. Richtig. Klingeln.
Nichts.
Tanja seufzte. Sie mochte ihren Job in der Vorweihnachtszeit viel mehr als die Kindergeburtstagsanimationen, mit denen sie sich den Rest des Jahres über ihr Studium finanzierte.
Ganz besonders mochte sie das Kostüm in seinem satten Rot.
Als sie selbst noch Kind war, fand sie es schade, dass immer nur Nikoläuse und Weihnachtsmänner in den Kindergarten und in die Vereine kamen. Nie Nikoläusinnen oder Weihnachtsfrauen.
Da traf es sich gut, dass die fortschrittlichen Eltern im hiesigen Szenestadtteil - nach PEKiP und musikalischer Frühförderung, neben Bioobst und Dinkelbratlingen - die weibliche Präsenz der Adventsfiguren stärken und das so gezeichnete Bild ihren Kindern vermitteln wollten.
So war Tanja zu einem ordentlich bezahlten Job gekommen, mit dem sie gleichzeitig eine alte Sehnsucht stillen konnte, wenn auch nicht in der Rolle des zu beschenkenden Kindes. Dies war nun schon das vierte Jahr, indem sie als Nikoläusin durch das Westend zog. Auf dem Bewertungsportal ihrer Agentur hatte sie neben ihrem Künstlernamen Nikosch glatte fünf Sterne. Etliche Kunden hatten außerdem freundliche Kommentare hinterlassen, und ihre Chefin nannte Tanja gerne das beste Weihnachtspony im Stall.
Dass ihr nicht geöffnet wurde, war ihr noch nie passiert. Gerade wollte Tanja einen letzten Versuch unternehmen, als sie hinter der Tür Schritte hörte. Na endlich, dachte sie und rückte sich ihre Mütze zurecht. Wie die männlichen Kollegen trug sie eine von diesen langen Zipfelmützen, natürlich mit weißem Bommel. Auf den Bart wurde allerdings verzichtet, damit die Nikoläusinnen auch sofort als Frauen erkennbar waren und nicht erst an der Stimme. Großen Wert legte ihre Chefin auf ein makelloses Make-up mit passendem, tiefroten Lippenstift. Tanja vermutete, dass es darum ging, dass auch die in der Regel ihren Einsatz bezahlenden Väter etwas von der Bescherung hatten.
Langsam wurde die Tür geöffnet und Tanja musste ihren Kopf beinahe in den Nacken legen, um dem Mann in die Augen zu sehen.
„Guten Abend“, vernahm sie und ihr Blick wanderte zu einem schön geschwungenen Mund.
„Herr Tiefenstein?“
„Ja“, räusperte sich ihr Gegenüber, seine Stimme wurde lauter und klarer, „Thomas Tiefenstein. Sie können gerne Thomas sagen.“
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