Kann ein Mann eine Frau ergründen, wenn er sie auf der Tanzfläche sieht? Beim Tanz zeigt sich der Körper einer Frau, ihr Temperament. Tanz ist erotischer Ausdruck. Aber nicht nur das. Mario sah der Frau zu und fragte sich, welchem Zweck der kurze, braune Lederriemen diente, der an einem Karabinerhaken von ihrem Gürtel herab hing.
Mario hatte den Klub vor einem Jahr entdeckt. Tagsüber konnte man hier wie in einem Café sitzen, bei unaufgeregtem Elektrobeat am Laptop arbeiten, sogar etwas essen. Beliebt war der Klub besonders bei Leuten mit anstrengendem Tagesjob zum Runterkommen am späten Nachmittag.
Abends wechselte die Kundschaft. Die Kreativen mit ihren Notebooks verschwanden, gestresste Menschen auf der Suche nach Entspannung wechselten vom Kaffee zum Drink, die Musik wurde lauter. Bässe im Takt einer erhöhten Herzfrequenz brachten die Menschen auf die Tanzfläche und am Eingang bezog ein Türsteher seinen Posten.
Mario mochte nicht tanzen. Zuschauen genügte ihm. Erwartungshaltungen gab es im Klub weder am Tag noch im Nachtbetrieb, weder beim Personal, noch den Gästen. Man konnte tun und lassen, was man wollte, an der Bar trinken, sich auf einer der Tanzflächen den Stress der Woche aus dem Leib tanzen, in lustiger Runde an Tischen sitzen oder allein, etwas entfernt vom Trubel, auf einem der einzeln stehenden Relaxsesseln, den Alltag vergessen.
Mario saß gern allein. Fast täglich kam er in den Klub, manchmal am Vormittag zum Kaffeetrinken und Arbeiten, hin und wieder nachmittags zum Entspannen und jeden Freitag am Abend, um in der Musik zu ruhen und dabei auf die Tanzfläche zu schauen.
Auch heute saß er auf seinem Sessel, schaute einer Frau zu. Seit neun Wochen war sie jeden Freitagabend hier, kam vor den Partygängern, meist gegen acht und ging zwischen ein und zwei Uhr. Sie war hier, um sich zu bewegen, fünf, sechs Stunden lang. Jeden Antänzer brachte sie auf Distanz, indem sie sich so drehte, dass er aus ihrem Blickfeld geriet. Ihre Abwehr bestand aus Ignorieren. Das tat sie auf der Tanzfläche und an der Bar. Nicht nur schmierige Dumpfbacken versuchten es bei ihr, auch Männer, die gleichsam über Körper, Geist und Geld zu verfügen schienen. Sie wehrte Kontaktversuche kurz und freundlich ab, zeigte keinerlei Interesse.
Jede halbe Stunde stellte sie sich an die Bar, bestellte Wasser, trank es und ging im Anschluss zurück auf die Tanzfläche. Hin und wieder kam die Bedienung während einer ihrer Tanzpausen zu ihr, wies auf einen Mann, stellte einen Drink für sie auf die Theke. In diesen Fällen sah sie kurz zu dem Anwärter, der sein Glas hob und sie mit erwartungsvollem, aufforderndem Blick ansah, legte ihre Hand kopfschüttelnd auf den Bauch, wies auf den Drink und schob ihn zur Bedienung.
Auch Frauen mochte sie nicht, wechselte bei einem gesuchten Kontakt einige freundliche Worte, wendete sich im Anschluss entschuldigend ab.
Wenn sie zu den Toiletten ging, verhielt sie sich danach ebenso wie vorher. Ihr Tanz blieb ohne übertriebene Verzückung, die Augen wurden nicht glasiger.
Mario dachte darüber nach, ob die Frau leicht autistische Züge besaß oder asexuell eingestellt war. Sie wirkte nicht wie jemand, die Mühe hatte, einen Partner für die Nacht zu finden. Stand sie ausschließlich darauf, sich die Arbeitswoche aus dem Leib zu tanzen? Dagegen sprach, dass sie zum Ende eines jeden ihrer Besuche im Klub ein Gespräch mit einem der anwesenden Männer führte.
So ging es seit acht Wochen.
Mario kannte die Gäste. Viele kamen regelmäßig, trotz des unverschämt teuren Eintritts zur Partyzeit. Einige Gäste kannten auch Mario. Man lächelte ihm im Vorbeigehen zu.
Einfach so die tanzenden Menschen zu beobachten, brachte vielen Leuten Entspannung, wirkte besser auf die Seelen als Fernsehunterhaltung. Unsere Gesellschaft, so sagten die Medien, veränderte sich. Das Familienbild war nicht mehr der alleinige Maßstab für gesellschaftliche Akzeptanz. Es gab immer mehr Singles, also auch Frauen und Männer, die einfach einen Abend lang allein saßen und auf die Tanzfläche schauten. Hier im Klub interessierte das niemanden. Man musste zu keiner Zeit mit einem Notebook auf dem Schoß auf wichtig, kreativ und beschäftigt machen. Jeder durfte sein, wie er wollte. Wahrscheinlich lief der Klub deshalb gut.
Mario beobachtete die tanzende Frau. Wie ein Magnet zog sie seine Gedanken auf sich. Nein, eine Autistin war sie nicht. Dagegen sprach ihr Verhalten am Ende ihrer Abende im Klub. Rein zufällig kam sie irgendwann mit einem Mann ins Gespräch. Dabei suchte sie den Kontakt, stieß scheinbar unbeabsichtigt mit einem Tänzer zusammen, stellte sich an der Bar neben einen Mann. Acht Mal unterhielt sie sich bisher mit einem Mann. Die Dauer der Gespräche war unterschiedlich. Mario erinnerte sich an wenige Minuten bis zu einer halben Stunde. Sechs Mal ging die Frau allein aus dem Klub, zwei Mal folgte ihr ein Mann.
Mario machte ein Zeichen zur Bedienung. Die Barfrau nickte, wusste, was er trank, vormittags, an den Nachmittagen und an späten Freitagen. Kaffee und Wasser.
Marios Gedanken kreisten um die Frau. Er sah sie tanzen, gedanklich versunken, in sich ruhend, mit sanften, runden Bewegungen. Kann ein Mann eine Frau ergründen, wenn er sie tanzen sieht? Er dachte sich ihren Pullover weg, den Rock, ahnte, wie sie unter ihrer Kleidung aussah. Beim Tanz zeigte sich der Körper einer Frau, ihr Temperament. Tanz ist erotischer Ausdruck. Dieses Zuschauen wirkte auf Mario wie ein Zauber, der ihn die Welt vergessen ließ. Schon das war mehr als genug. Aber auch andere Bilder zeigten sich ihm, erotisch, voller Kraft und Leidenschaft. Er sah die Frau mit einem Mann zwischen weißen Decken und Kissen, schaute zu, wie sie sich im Bett bewegte. Mario schloss die Augen, hörte die Frau, roch sie, berührte sie in Gedanken, nahm teil an ihren privaten Dingen. Anbetungswürdig war das und gleichzeitig fühlte er sich wie ein Dieb, der in einem fremden Schlafzimmer stand.