Der Moment, in dem der erste Schnee fällt, ist einer der schönsten Augenblicke im Jahr.
Als Gregor aus seinem Fenster sah, lag bereits eine dünne, weiße Decke über der stillen Vorstadt. Dicke Flocken wirbelten. Gregor zog Mantel und Schuhe an. Im Zwielicht des frühen Abends machte er sich auf den Weg. Bereits in der Wilhelm-Klemm-Straße schlug ihm eisiger Schneewind in sein Gesicht. Ein heftiger Sturm begann. Gregor lief gegen rasende Eiskristalle. Spitze Nadeln stachen in seine Wangen. Er schüttelte sich unwillig, zog seine Schultern nach vorn und eilte den menschenleeren Gehweg entlang. Eisern richtete er seinen Blick nach vorn. Drei kahle Linden am Charles-Bukowski-Platz streckten ihre drohenden Äste in den rasenden Flockenabend. Aber dort, an der etwas erhellten Ecke des Platzes gab es mehr als nur Gespensterbäume. Dort wartete ein warmer Platz, eine Insel im Meer der Kälte. Wie von selbst beschleunigten sich Gregors Schritte. Sie führten ihn direkt zum Poetencafé, durch dessen Fensterscheiben warmes, gelbes Licht hinaus in den stürmischen Abend schien.
Mehrere Tische waren besetzt. Gregor grüßte einige flüchtige Bekannte, nickte der Kellnerin freundlich zu, verspürte jedoch keinerlei Lust auf ein Gespräch und sah sich nach einem stillen Platz um. Er hing Mantel und Schal auf die Garderobe, fand einen bequemen Stuhl in einer Ecke mit Blick auf die Straße, setzte sich vor den matt glänzenden Holztisch und bestellte bei Heike einen Glühwein mit Rum.
Juliane prüfte ein letztes Mal ihre Tabelle, seufzte unzufrieden und klappte ihr Notebook zu. Dieser Idiot! Zwei Monate keine Miete zahlen und als Krönung klammheimlich über Nacht abhauen! Dadurch fehlten ihr eintausend Euro zur monatlichen Rate für den Kredit. Julianes Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken an diesen Kerl. Peter entsprach genau dem Klischee submissiver Männer. Ein Typ Muttersöhnchen war er, ständig jammernd, willensschwach und nicht sehr hell im Kopf. Warum ist er gegangen? Zu wenig Zuwendung? Hatte sie etwas falsch gemacht? Schnell wischte sie diese unangenehmen Gedanken fort. Die Vergangenheit war eine Ebene, die ihr nicht mehr zur Verfügung stand. Heute musste Geld her. Das Apartment durfte nicht leer stehen. Sie brauchte schnell einen neuen Mieter. Doch nicht nur das. Der entstandene Verlust musste mit einem neuen Stammkunden kompensiert werden. Beide Aufgaben erforderten Geduld, längere Planung und Glück. Doch Zeit für Planung gab es nicht. Mit Geduld bekam sie kein Geld in ihre Brieftasche. Heute musste sie ihr Problem lösen. Ihr blieb nur das Glück einer erfolgreichen Jagd. Sie musste Beute machen. Juliane stand auf und schloss die Tür ihres Büros. Schnell lief sie an ihren Apartments vorbei zu ihrem Wohnbereich und betrat ihr Ankleidezimmer.
Als sich Gregor einen zweiten Glühwein bestellt hatte, traf ihn kurzzeitig ein unangenehm kühler Zug, den ein eintretender Gast verursachte. Unwillig sah er auf und wurde von einem Blitz getroffen. Nur kurz, vielleicht eine Sekunde hielt die Frau im Moment ihres Eintretens den Blickkontakt zu ihm, schloss sanft die Tür und sah sich um.
Bei ihrem Eintreten brachen sämtliche Gespräche ab. Die Gäste starrten sie an. Juliane kannte das, wusste um ihre dominante Präsenz, die sofort einsetzte, wenn sie einen Raum betrat. Dazu brauchte sie weder Ledermantel noch hohe Stiefel. Dennoch trug sie diese Kleidung. Bereits im ersten Moment ihrer Anwesenheit übernahm sie, führte, wurde selbstverständlich. Die Anwesenden witterten ihr selbstsicheres Auftreten, spürten Stärke, Dominanz und Stil. Sie ordneten sich ein und zeigten ganz normales Rudelverhalten.
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