Es war bereits zu dunkel, um die vorbeiziehende Landschaft durch das Fenster zu betrachten. In dem beleuchteten Bus sah Janine nur ihr Spiegelbild in der Scheibe, ihre roten Locken, die offen über ihre Schulter fielen, die schmalen Gesichtszüge und die helle Haut. Meter für Meter überwand das Fahrzeug die Entfernung von der Stadt, in der sich die Mittdreißigerin mit ihrer Freundin zum Einkaufen getroffen hatte, zu dem idyllischen Dorf, in dem ihr Haus im Bungalowstil stand. Besagte Einkäufe, die aus ersten Weihnachtsgeschenken für ihre Familie, neuen Bildern und diversen Kleidungsstücken bestanden, lagen auf dem Sitz neben ihr. Die Stimmen der anderen Passagiere mischten sich mit dem leisen Brummen des Motors. Ein junger Mann sprach hektisch in sein Handy, ein Mädchen im Teenageralter diskutierte flüsternd, aber eindeutig wütend mit der Frau neben sich, vermutlich ihrer Mutter. Ein Pärchen unterhielt sich leise, unterbrochen von gedämpften Lachen. Das sanfte Schaukeln beim Fahren hatte etwas einlullendes, wodurch es Janine fast widerstrebte, die Wärme des Busses zu verlassen, um an ihrer Haltestelle in den kalten Winterabend zu treten. Bisher hatte es noch keinen Schnee gegeben, nur den einen und anderen Regenguss. Aber es war auch erst der 5. Dezember und die sinkenden Temperaturen, die nicht nur für heute angesagt wurden, ließen eine erste verhaltene Hoffnung auf weiße Weihnachten entstehen.
In ihrem dunkelgrünen Kunstledermantel gehüllt und mit schwarzer Mütze und Schal geschützt, nahm Janine die letzte Strecke zu ihrem Haus in Angriff. Seit dem Tod ihres Mannes vor acht Jahren lebte sie dort allein und die Erinnerung an die gemeinsame Zeit darin hatte inzwischen ihre scharfen Zähne verloren. Sie konnte mittlerweile den Kamin oder die kunstvoll verzierte Holzbank in ihrem Garten ansehen und nur die bittersüße Melancholie fühlen, wenn sie daran dachte, was dort alles geschehen war. Ohne den unerträglichen Schmerz zu spüren, der ihr in der ersten Zeit die Luft zum Atmen genommen hatte.
Den Lichtschein, der aus dem Fenster im Wohnzimmer fiel, bemerkte sie schon von draußen und ihr Magen schlug Purzelbäume. Auch das Zittern ihrer Hand, die länger als gewöhnlich brauchte, um den Hausschlüssel ins Schloss zu stecken und zu drehen, zeigte, wie aufgewühlt sie war. In ihrem Hausflur angekommen, nahm sie sich dennoch die Zeit, Schuhe, Mantel, Mütze und Schal abzulegen, dann erst begab sie sich ins Wohnzimmer. Das Feuer im Kamin war warm und einladend oder wäre es gewesen. Doch sie hatte es nicht entzündet, bevor sie gegangen war, ebenso wenig, wie sie die Decke herausgelegt hatte, die sie nun auf ihrer Couch sah. So leise wie möglich schlich sie sich nun aus dem Raum, in die Dunkelheit des restlichen Hauses.
Er wusste nicht genau, wann sie heimkommen würde, also hatte er sich genug Zeit für die Vorbereitungen genommen. Der Kamin und die Decke waren nur der letzte Schliff gewesen. Zuvor hatte er sich noch versichert, dass alle Türen und Fenster des Hauses geschlossen waren, sodass es keine offenen Fluchtwege gab. Das Haus war zwar nicht so groß, um sich darin verlaufen zu können, aber es bot genug Verstecke und freien Raum, damit man sich bewegen konnte.
Genau darauf hatte er es nämlich abgesehen, denn schließlich wollte er sich selbst den Spaß nicht verleiden. Gekleidet war er in eine Hose aus weichem Leder und eine Weste aus Kunstfell, die genauso pechschwarz war wie sein Haar. Zusammen mit dem Bart und der Halbmaske mit Hörnern verlieh ihm das ein grimmiges Aussehen, während er zugleich mit der Dunkelheit im Flur verschmolz. Von hier aus hatte er sie auch beobachtet, stumm und bewegungslos, bis die Rothaarige schließlich davongeschlichen war.
Erst dann setzte er sich in Bewegung, die Finger der Rechten um die Birkenrute geschlossen. Ganz bewusst nahm er dabei in Kauf, dass die Kuhglocke an seiner Hüfte mitschwang und ein hörbares Geräusch durch die Stille des Hauses erklingen ließ.
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