Eine Schneeflocke verfing sich in ihren Wimpern, schmolz und vermischte sich mit den Tränen, die ihr über die Wange liefen. Nur noch verschwommen sah sie den Weg vor sich. Sie weinte bitterlich, während sie sich langsam weiter kämpfte. Mühsam waren ihre Schritte, die sich durch den hohen Schnee kämpfen mussten. Eng zog sie ihren Mantel um sich und doch war ihr bitterkalt. Sie hatte Angst. Was würde aus ihr werden? Schon sah sie sich erfroren unter einer Schneewehe liegen. Irgendwann zufällig von einem Spaziergänger gefunden. Die Enttäuschungen des heutigen Abends hatten ihr alle Hoffnung genommen, jede Hoffnung auf ein wenig Menschlichkeit in dieser kalten Welt.
Verloren war sie, heimatlos, und doch zog es sie hierher. Sie war auf der Suche. Auf der Suche wonach? Sie wusste es selbst nicht mehr so genau. Eine innere Stimme hatte sie an diesen kalten Ort geführt. Mittlerweile verfluchte sie diese Stimme. Was hatte es gebracht? Sie hatte kein Geld mehr, keine Papiere, nichts... und niemanden. Bis sie auf diesen Weg gelangt war und nicht mehr konnte. Da hatte sie an ein Haus geklopft - und keinen Einlass gefunden. Skeptisch gemustert hatte man sie, im Hintergrund eine sichere und warme Stube wissend. Nein, ein Obdach könne man ihr nicht gewähren, da könne ja jeder ankommen. Außerdem sei das Haus schon voller Gäste über die Feiertage. Dann war die Türe vor ihr wieder zugefallen. Der Einblick in eine Zuflucht war wieder verschlossen. Und sie war weiter gegangen bis zum nächsten Haus und hatte dort allen Mut zusammengefasst und abermals geklopft. Und es war noch schlimmer gekommen. Beschimpft hatte man sie! Ein Gesindel sei sie, schämen solle sie sich. Entsetzt hatte sie kehrt gemacht.
Seitdem irrte sie nun weinend weiter. Wusste weder ein noch aus, war verzweifelt. Der Weg führte sie durch ein lichtes Waldstück. Immer unwahrscheinlicher wurde es, hier noch ein bewohntes Haus zu finden. Sie stapfte weiter. Eine geradezu gespenstische Ruhe umfing sie, nur ihre eigenen Schritte, ihren eigenen Atem konnte sie noch hören. Ängstlich sah sie sich immer wieder um, glaubte hinter jedem Baum eine Gefahr. Und doch ging sie weiter. ‚Dann sterbe ich eben hier... es ist egal‘, ging ihr durch den Kopf. Unter keinen Umständen wollte sie wieder umkehren. Wenn sie schon in ihr Verderben laufen sollte, so wenigstens in Richtung Vor und nicht Zurück.
Ihre Tränen waren versiegt. Und auch ihre Kräfte gingen ihrem Ende entgegen. Sie blieb stehen, lauschte um sich, nahm den Wald um sich ganz bewusst wahr. Fast friedlich kam er ihr mit einem Mal vor, so als wolle er ihr nichts tun, als wolle er sie eher behütend in sich aufnehmen. Auch wenn es bereits dunkle Nacht war, so konnte sie doch alles um sich gut sehen, der Schnee leuchtete ihr. Sie blickte auf einen kleinen Schneehügel vor sich und fühlte sich beinahe magisch von ihm angezogen. Sie wollte sich in diesen weichen Schnee legen wie in ein Bett, sich von der weißen Pracht umhüllen lassen, die Augen schließen und einschlafen...
Lange starrte sie auf den Hügel, focht einen inneren Kampf mit sich aus. Es wäre so einfach und sie war so müde. Kein morgen würde es mehr geben. Und doch - wollte sie diesen einfachen Weg gehen? Oder den langen beschwerlichen, der noch vor ihr lag, sie ins Ungewisse führte?
Da hörte es zu schneien auf. Erstaunt blickte sie nach oben, beobachtete, wie die dichte Wolkendecke langsam aufriss, ein Stück des klaren Nachthimmels freigab. Und da sah sie ihn. Den Stern. Er leuchtete hell, schien sie zu rufen. Ein Schauer erfasste sie, fuhr ihr über den ganzen Rücken hinab. Ihre Füße setzen sich wieder in Bewegung, folgten dem Stern. Sie dachte nicht nach, tat es einfach und sie wusste, es war richtig so. Sie verließ den Weg, ging nun mitten durch den Wald, sah zwischen den Bäumen immer wieder ihren Stern aufleuchten. Noch mühsamer war nun das Vorankommen, aber sie tat es, sollte es ihr auch ihre letzten Kräfte rauben. Und endlich, als sie schon mehr kroch als noch ging, sah sie es. Warmes Licht schien aus einem der Fenster des vor ihr liegenden Hauses. Mit letzter Kraft schleppte sie sich bis zur Türe, sank auf der Schwelle nieder und schaffte es gerade noch, ihren Arm zu erheben und einmal zu klopfen.
Sie nahm noch wahr, wie sich die Türe öffnete. „Ich habe auf dich gewartet“ war das Letzte, was sie hören konnte, bevor sie in eine tiefe Ohnmacht sank mit dem Bewusstsein, an ihrem Ziel angelangt zu sein.
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