Annalena nickte kaum spürbar. »Du hast völlig recht. Aus diesem Grunde ist es gut, wenn du dich zu einer Sache zwingst, dich überwinden musst. Ich brauche Authentizität, Ausdruck. Aus einem Bild heraus muss sich etwas entwickeln, dass sich auf den Betrachter überträgt. Ich erkläre es dir an einem einfachen Beispiel. Was würdest du tun, wenn ich den Absatz meines Schuhes auf deinen Fuß stelle und zudrücke, erst langsam, dann immer stärker und dich dabei beobachte?«
Die Malerin sieht den Regen langsam an den Scheiben herablaufen. Wann gab es das letzte Mal weiße Weihnachten? Vor zehn oder fünfzehn Jahren?
Sie schaut zurück ins Buch. Jedem ihrer vierundzwanzig Bilder hatte Beatrice eine einführende Bildinterpretation vorangestellt. Sie überblättert den Text, schaut auf die nächste Szene, erinnert sich an lange Diskussionen mit ihrer Galeristin über die Reihenfolge der Bilder.
Beatrice meinte, dass Themen vertieft werden sollten. Schnelle Wechsel von szenischen Darstellungen auf Bildern bringen Unruhe in den Ablauf der vierundzwanzig Bilder. Annalena hielt dagegen, dass zwei Bilder derselben Protagonisten, in diesem Falle zweier Männer beim Betrachter den Eindruck fehlender Vielseitigkeit erwecken könnten, verließ sich dennoch auf das Urteil ihrer Galeristin und stimmte zu.
Auf dem Bild sieht der Betrachter Daniel. Er hängt mit dem Kopf nach unten in der Luft. Breite Ledermanschetten an dünnen Stahlseilen halten ihn sicher. Sein Körper ist voller Klammern, das Gesicht schmerzhaft verzogen. Etwas Flüssigkeit läuft ihm an den Seiten des Ballknebels aus dem Mund. Der Major steht mit leicht gespreizten Beinen vor ihm, nimmt eine Stahlklammer aus der halb gefüllten Schale. Man kann ahnen, wo er seinem Sub die Klammer setzen wird. Der Kopf von Daniel schaut zwischen den Stiefeln des Majors direkt den Betrachter an.
Draußen jagt der Sturm um das Haus. Regen prasselt an die Fensterscheiben. Die Malerin Annalena denkt zurück an ihre letzte Ausstellung. Zu jedem Tag im Advent hat sie ein sadomasochistisches Bild gemalt. Das Cover des Bildbandes zeigt Beatrice, ihre Galeristin. Es hat Annalena einiges an Durchsetzungskraft gekostet, Beatrice davon zu überzeugen, sich in dieser Stellung öffentlich abbilden zu lassen.
Die Malerin schlägt das Bild zum ersten Dezember auf. Da ist Daniel, schaut direkt zum Betrachter. Das Zentrum des Bildes, seine Kraft, Ausstrahlung und Aussage liegt in diesem Gesicht. Einiges von dem, was Sadomasochismus ausmacht, zeigt Daniel, die Annahme von Leid, der gebändigte Widerstand, hingenommene Qual und eine alles überdeckende Lust, die aber nicht bei Daniel liegt.
Gegenwert
Annalena nickte kaum spürbar. »Du hast völlig recht. Aus diesem Grunde ist es gut, wenn du dich zu einer Sache zwingst, dich überwinden musst. Ich brauche Authentizität, Ausdruck. Aus einem Bild heraus muss sich etwas entwickeln, dass sich auf den Betrachter überträgt. Ich erkläre es dir an einem einfachen Beispiel. Was würdest du tun, wenn ich den Absatz meines Schuhes auf deinen Fuß stelle und zudrücke, erst langsam, dann immer stärker und dich dabei beobachte?«
Peter sah Annalena an. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass es ein BDSM-Amt gibt, in dem penible Angestellte jede Neigung, jeden Fetisch klar definieren, katalogisieren, in Registraturen ablegen, bei Bedarf als Handlungsanweisung hervorholen und durch Exekutive überwachen. Wer die klar definierten Handlungsanweisungen ignoriert, gehört nicht zur Szene. Können Sie mir folgen?«
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